- Kultur
- Roma und Romnja
Ganz normale Helden
Das Independent Theater Hungary kämpft mit den Mitteln der Kunst gegen den Antiziganismus in Ungarn
Es waren einmal zwei kleine Mädchen und drei Jungen, die gemeinsam mit 200 anderen von fünf Bussen abgeholt wurden und sich auf dem Hof eines großen Hotels trafen. Das berichtet die junge Babrinka. In dem für romane Kinder organisierten Sommercamp gab es alles: »Juices! Schnitzel! Potato! And pogroms.« Schnell spüren die Erzähler*innen, dass diese Bildungsmaßnahme, in der ihnen Kultur und Identität nahegebracht werden soll, keine guten Intentionen verfolgt. Die Jugendlichen entscheiden sich zu fliehen. Auf ihrer gemeinsamen Reise teilen sie erinnerte und geträumte Geschichten, aus denen sich fünf von rassistischer Gewalt beschädigte Leben herauskristallisieren. Rodrigó Baloghs Inszenierung »Tollfosztás« von 2009 konfrontierte das erwachsene Publikum mit einem täglich stattfindenden Überlebenskampf.
Nachdem im September 2006 acht Rom*nja einen Mann im ungarischen Olaszliszka umgebracht hatten, brach der schwelende Hass gegen die gesamten romanen Communitys offen zutage. Neben der rechtsextremen Partei Jobbik instrumentalisierte auch das gesamte rechtskonservative Lager den Fall, um rassistische Stereotype aufzurufen. Der ungarische Regisseur Balogh erinnert sich, dass sich in dieser Zeit eine tragische Entwicklung zwischen Rom*nja und der Mehrheitsgesellschaft in Ungarn spürbar ankündigte. Doch nach dem Mordfall im Herbst sei das Leben für alle Rom*nja im Land dann zur Hölle geworden.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Rassistische Fremdbezeichnungen in der medialen Berichterstattung und gewaltsame Ausschreitungen prägten die späten 2000er. In diesem Klima ereigneten sich die gezielten Angriffe auf und Morde an romanen Familien durch rechtsradikale Täter, die sie 2008 und im Folgejahr in kleineren Orten verübten. Die Rechtsradikalen verurteilte man damals hart, wohl auch, um ein striktes Durchgreifen gegen rassistische Verbrechen an die EU zu signalisieren, die Hinterbliebenen der Opfer warten jedoch noch immer auf angekündigte Entschädigungszahlungen.
Das konstante Gefühl der Bedrohung und die Angst, dass ein Anschlag den von strukturellem Antiziganismus geprägten Alltag zerreißen könnte, bannte Benedek Fliegauf in seinem Film »Just the Wind« in die Spanne eines Tages. Am Ende des reduziert erzählten Werks, das durch die nahe Kameraführung ein intimes Verhältnis zu den jungen Protagonist*innen herstellt, steht der Schuss auf einen fliehenden Jungen, der den tatsächlichen Mord an einem fünfjährigen Kind und seinem Vater aufgreift.
Um das Publikum in ihrer vermeintlich überlegenen Position zu verunsichern, bedient sich Balogh in seiner Inszenierung ebenfalls der kindlichen Perspektive. Die Jugendlichen auf der Bühne erzählen abgehärtet und verletzlich von ihren Erfahrungen, schließlich auch von ihrem gewaltsamen Tod, und behalten dabei die souveräne Distanz des Schauspiels. Wie schon zu Beginn gesetzt, bleibt der Ton spielerisch und märchenhaft.
In der Diskrepanz zum Geschilderten entfaltet sich die Grausamkeit der Inszenierung, die das Publikum aus der Mehrheitsgesellschaft mit der Lebensrealität und der antiziganistischen Diskriminierung, die eben auch Kinder erfahren, konfrontiert. Wie in der bekannten Inszenierung »Five Easy Pieces« von Regisseur Milo Rau, in der sehr junge Akteur*innen Szenen aus dem Fall des Kindervergewaltigers und -mörders Marc Dutroux nachspielen, behandelt die Arbeit des ungarischen Theaterregisseurs die Frage, welche Machtgefälle im Theater herrschen und wie sie mit dem schwer Aushaltbaren ausgehebelt werden können.
Die Theaterproduktion des Independent Theaters Hungary, das Balogh 2007 gründete, interveniert mit dieser Arbeit nicht nur in die abwertenden Zuschreibungen, das Theater von Kindern erfährt, sondern auch in die sonst auf der Bühne gezeigten romanen Stereotype. Als Schauspieler am ungarischen Kammertheater begegneten ihm die rassistischen Klischees immer wieder und erfüllten ihn mit Scham. Kein positives Stereotyp, sondern Roma Dramatic Heroes mit eigener Handlungsmacht möchte er dem auf den institutionalisierten Bühnen entgegensetzen. In seinen selbst verfassten Stücken treffen die dramatischen Helden eigenverantwortliche Entscheidungen, scheitern oder sind erfolgreich. Die auf Selbstrepräsentation setzende Theatergruppe will mit den geschaffenen Vorbildern die romanen Communitys darin bestärken, ihre politische Handlungsmacht auszuweiten.
Hinter der Bühne entstehen während ihrer künstlerischen Arbeit langfristige Netzwerke und nachhaltige Infrastrukturen. In »Tollfosztás«, das im Englischen den Titel »Feather Picking« trägt, war es Balogh wichtig, junge Menschen nicht nur für eine Produktion einzubeziehen, sondern ihnen Zugang zu professionellem Wissen zu ermöglichen und ihnen akademische Bildungswege im Theater aufzuzeigen.
Die Talentförderung der unabhängigen Theatergruppe trägt Früchte. So begann Emília Lovas, die vor 13 Jahren die Rolle der Babrinka übernahm, eine professionelle Schauspielkarriere, und in diesem Mai feiert sie ihre erste Premiere als Regisseurin. Da romanen Kindern von institutioneller Seite fast nie nahegelegt wird, einen akademischen oder gar musischen Weg einzuschlagen, schafft sich das Independent Theater Hungary seinen eigenen künstlerischen Nachwuchs, gibt Workshops und arbeitet an der Integration ihrer Stoffe in den Lehrplan.
Lovas’ Inszenierung beschließt 2022 das vor fünf Jahren gegründete »Roma Heroes Festival«. Jährlich kommen in Budapest romane Theatergruppen aus Europa zusammen, spielen und lernen voneinander. Oftmals wussten die Gruppen zuvor nicht voneinander, erinnert sich Balogh, der 2015 mit den Akteur*innen des Independent Theater Hungary begann, zur Theatergruppen in Europa zu recherchieren.
Während des Festivals filmt eine professionelle Crew die Produktionen, um sie in guter Qualität einem großen Publikum zugänglich zu machen. Die Aufzeichnungen und zwei veröffentlichte Stücksammlungen erleichtern die Intervention in den akademischen Kanon, meint Balogh, der bereits Erfolge sieht. An den Universitäten erstellen Dozierende Kurse zu diesen Arbeiten und in der nicht-formalen Ausbildung gehen die Trainer zu jungen Menschen und geben Workshops zum Konzept des Roma Dramatic Heroes. Die Strategie nimmt den Mainstream in die Zange, öffnet den Blick der Akademiker*innen und neue Wege für strukturell diskriminierte Jugendliche.
Finanziert werden die Projekte des Independent Theaters Hungary von ausländischen Fonds und Stiftungen. Von staatlichen Geldern hält sich Balogh fern, betont er, denn da gehe es lediglich um Kontakte. Er könne seine Arbeit nur selbstbestimmt gestalten, wenn er nicht von der aktuellen Politik abhängig sei. Sonst laufe er Gefahr, eine Alibifunktion zu erfüllen und als künstlerisch erfolgreicher Roma vorgezeigt zu werden, während sich an der sozialen Ungerechtigkeit nichts ändert.
Mit Blick auf die Wahl im April macht er sich wenig Illusionen. Die Oppositionsparteien stellten nach einem Bürgerentscheid den parteilosen Konservativen Péter Márki-Zay auf, um gegen Viktor Orbán anzutreten. Erst gewann der Katholik überraschend die Bürgermeisterwahl in Hódmezővásárhely, einer Fidesz-Hochburg, jetzt soll er als gemäßigte Variante des Ministerpräsidenten das ganze Land für sich einnehmen. Die Regierungspartei und der Oppositionskandidat hätten eine Gemeinsamkeit, meint Balogh: Rom*nja seien ihnen scheißegal. Das gelte für alle Gruppen, die Hilfe oder Unterstützung bräuchten.
Der Aktivist Bela Racz äußerte sich am 9. Februar 2022 im Gespräch mit der Deutschen Welle ähnlich: »Als Rom und als jemand, der für die Gemeinschaft arbeitet, sehe ich im Moment keine Partei oder Koalition, bei der ich guten Gewissens sagen würde: Die soll es sein.« Konkrete Vorschläge, um die oft sehr prekäre Lebenssituation der Rom*nja zu verbessern, fehlen seines Erachtens. In der Vergangenheit wurden die Wahlentscheidungen der Communitys durch die kurzfristige Ausgabe von Lebensmitteln manipuliert und Rom*nja kaum als politisch-interessierte Bürger adressiert. Die sich aus dieser beständigen Abwertung ergebende Frustration hat Balogh in seinen Stücken im Blick. In einer Traditionslinie mit dem antiken Theater geht es ihm um die gespielte und praktizierte Gemeinschaftsbildung, um neue Wege der Einflussnahme.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.