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Postkoloniale Bestandsaufnahme
In Berlin befinden sich mindestens 5958 menschliche Körperteile aus kolonialem Kontext
Mnyaka Sururu Mboro bittet um eine Gedenkminute - ein eher ungewöhnlicher Beginn für eine Pressekonferenz. Am Dienstag wurde in Berlin ein wissenschaftliches Gutachten vorgestellt, das eine erste Bestandsaufnahme über menschliche Überreste, die aus dem kolonialen Kontext stammen darstellt. Diese »lagern« bis heute in medizinischen Sammlungen und musealen Kellern. Mboro, Vertreter der Initiative Berlin Postkolonial, ist selbst seit Jahrzehnten auf der Suche nach dem Kopf des Mangi Meli, der sich am Fuße des Kilimandscharo gegen die deutsche Kolonialherrschaft erhoben hatte und öffentlich gehängt wurde.
Bis jetzt hat er ihn nicht gefunden. Das liegt zum einen daran, dass kaum erforscht ist, woher die menschlichen Überreste aus den kolonialen Sammlungen stammen. Zum anderen daran, dass deutsche Institutionen Privatpersonen häufig keine Auskunft geben, sondern darauf bestehen, eine offizielle Anfrage müsse von staatlicher Stelle erfolgen. Die Bestandsaufnahme, beauftragt durch die Koordinierungsstelle für ein gesamtstädtisches Konzept zur Aufarbeitung von Berlins kolonialer Vergangenheit, will daran etwas ändern. Die Ethnologin Isabelle Reimann hat im vergangenen Jahr die musealen und wissenschaftlichen Einrichtungen in Berlin befragt und kommt zu dem Ergebnis, dass sich in den Sammlungen von zwölf Einrichtungen mindestens 5958 Überreste von Menschen befinden, deren Aneignung in einem kolonialen Kontext angenommen wird. Die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte hat die Fragen der Forscherin nicht beantwortet. Nimmt man deren gesamte Rudolf-Virchow-Sammlung hinzu, sind es sogar 9458 menschliche Überreste. Dazu kommen weitere Tausende, bei denen ein kolonialer Kontext nicht ausgeschlossen werden kann.
Laut Reimann handelt es sich bei den menschlichen Überresten mehrheitlich um Schädel, aber auch um Skelette, Haare, Leichenteile, eingelegte oder getrocknete Weichteile. »Es handelt sich hier um Menschen, die auch Väter, Mütter, Großeltern waren, und die ohne Zustimmung nach Deutschland gebracht wurden«, erklärt sie. Für manche Menschen der Herkunftsgesellschaften seien diese Menschen immer noch spirituelle Entitäten. In der Kolonialzeit wurden viele Schädel und menschliche Gebeine nach Deutschland gebracht, um rassistische Forschung zu betreiben. Bis heute werden diese teilweise für Forschung, Lehre und Ausstellungen verwendet. Mboros Gedenkminute ist auch ein Versuch, diesen Menschen ihre Würde zurückzugeben - etwas, das Deutschland ihnen bisher verwehrt hat. Zwar gibt es laut einem Eckpunktepapier von Bund, Ländern und Kommunen den Willen, menschliche Überreste an die Herkunftsgesellschaften zurückzugeben, bisher aber kaum Anstrengungen, dies auch umzusetzen.
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Laut Reimann hätten einige Institutionen zwar ein Interesse daran, ihre koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, es fehle aber an Kapazitäten beziehungsweise den passenden Provenienzforscher*innen. Ihr Gutachten ist auch ein Appell für eine systematische Aufarbeitung dieses kolonialen Erbes. Sie empfiehlt, institutionsübergreifende, interdisziplinäre und transnational ausgerichtete Forschungsprojekte ins Leben zu rufen. Dabei müsse gewährleistet werden, dass Vertreter*innen von Selbstorganisationen, Repatriierungspraktiker*innen und Akteur*innen der kritischen Zivilgesellschaft informiert und beteiligt werden, zum Beispiel in Form einer Kommission. Außerdem müssten Institutionen verpflichtet werden, Angehörigen und Vertreter*innen von Herkunftsgesellschaften Auskunft und Zugang zu sterblichen Überresten ihrer Vorfahren zu gewähren.
»Ich hoffe, es wird eine Lösung gefunden, damit wir unsere Vorfahren nach Hause bringen können«, resümiert Mboro.
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