Plötzlich Willkommenskultur?

Ungarn: Viktor Orbans Regierung ändert die Asylgesetze und lässt ukrainische Flüchtlinge ins Land. Um diese kümmern sich jedoch vor allem Freiwillige

  • Christian-Szolt Varga, Záhony
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Gemeindehaus der kleinen Grenzstadt Záhony an der Grenze zwischen Ungarn und der Ukraine herrscht am vergangen Freitagmorgen Hochbetrieb. Über Nacht wurde das Kulturzentrum, das auch die Dorfbibliothek beheimatet, zum provisorischen Flüchtlingslager umgebaut. Auf eilig zusammengeschobenen Tischen stehen Erdbeerjoghurt und Wasser für die ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine bereit, der Bürgermeister hatte am Vortag eine Liste mit dringend benötigten Sachen auf Facebook gepostet. Auf Matratzen liegen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten haben nur einen Koffer oder Rucksack dabei.

»Wir haben gestern Nachmittag schon gesehen, dass immer mehr Menschen am Bahnhof ankommen. Und bevor es zu kalt und dunkel wurde, haben wir sie hierher gelotst«, erzählt Adriane, die sich als Freiwillige um die traumatisierten Menschen kümmert. Insgesamt 70 Flüchtlinge hätten im Kulturzentrum übernachtet, die Hälfte von ihnen sei früh schon weitergezogen. »Die Solidarität im Dorf ist riesig, wir bekommen auch Anrufe aus dem ganzen Land. Die Menschen wollen Busse schicken, um die Flüchtlinge abzuholen und wollen uns Essen und Kleider schicken.«

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Zwei Stunden später und 40 Kilometer weiter südöstlich zieht am Grenzort Beregsurány der 17-jährige Ukrainer Wilhelm seinen Rollkoffer über den ostungarischen Asphalt. Er hat gerade sein erstes Semester Informatik an der Uni im westukrainischen Lwiw abgeschlossen, jetzt begleitet ihn eine Helferin auf seinen ersten Metern in Ungarn. Er spricht kein Ungarisch, sie kein Englisch, aber das nötigste an Kommunikation gelingt den beiden. Bald wird Wilhelm eine Verwandte aus Budapest abholen, bis dahin kümmert sich die Freiwillige um den Studenten. Da Wilhelm erst Anfang Mai 18 Jahre alt wird, konnte er die Ukraine noch verlassen. Sein Vater musste bleiben, da er im wehrfähigen Alter ist, seine Mutter und der Hund Eleonore sind bei ihm geblieben. »Ich war schon einmal in Budapest, habe die Fischerbastei und das Parlament besucht. Jetzt gehe ich nach Budapest, um mich vor dem Krieg zu verstecken«, erklärt Wilhelm. Normalerweise fahre er am Wochenende mit seinem Vater und Freunden Mountainbike in den Bergen. Er hoffe, dass Putin den Krieg bald beendet, damit er wieder nach Hause zurück kann. »Er ist zu alt um so ein großes Land wie Russland zu führen. Sein Gehirn ist kaputt.«

Am Sonntagmorgen meldet die Polizeibehörde in der Grenzregion erste Zahlen: 19 978 Menschen sind am Donnerstag, 19 618 am Freitag und 23 140 Personen am Samstag nach Ungarn geflüchtet. Am Donnerstag zuvor waren es noch vor allem Männer mit doppelter Staatsbürgerschaft, welche schnell über die Grenze gingen, um nach der ukrainischen Generalmobilmachung nicht in die ukrainische Armee eingezogen zu werden. Seit Freitag kamen dann immer mehr Frauen und Kinder. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) schätzte am Sonntagmorgen, dass bereits fast 300 000 Menschen vor den Kämpfen in der Ukraine geflohen sind. Die Organisation warnte auch, dass die Zahl aufgrund des Krieges auf fünf Millionen ansteigen könnte.

Bisher ist von organisierter staatlicher Hilfe in Ungarn noch nichts zu sehen. Stattdessen schickte Budapest zunächst Panzer und Sondereinheiten in Richtung Grenze. Währenddessen organisieren die Dorfbewohner in der Grenzregion zur Ukraine die Hilfe für die Flüchtlinge selbst. An den Grenzübergängen verteilen sie spontan Tee, Sandwiches und Windeln oder was eben gerade gebraucht wird. In mehreren Gemeinden haben die Bürgermeister die Rathäuser geöffnet und Betten aufgestellt. Dorfbewohner nehmen Flüchtlinge eine Nacht bei sich auf, bevor diese ins Landesinnere weiterreisen.

Die extra gegründete Facebookgruppe »Hilfe für die Ukraine / Transkarpatien« hat mittlerweile 78 000 Mitglieder, was etwas mehr als einem Prozent der erwachsenen Bevölkerung Ungarns ausmacht. Im ganzen Land werden Mitfahrgelegenheiten für die Flüchtlinge organisiert, Wohnplätze angeboten, Essen und Getränke gesammelt. Einer der ukrainischen Administratoren postet auf Ungarisch in die Gruppe: »Liebe ungarische Freunde! Wir danken euch sehr für die Unterstützung!«

»Die Hilfsbereitschaft der ungarischen Gesellschaft tritt jetzt sehr stark zum Vorschein. Und wie schon 2015 (Anmerk. d. Red.: Damals warteten Tausende Flüchtlinge am Bahnhof in Budapest auf ihre Weiterreise nach Norden. Die ungarische Regierung kümmerte sich nicht um die Migranten) wird die humanitäre Hilfe auch diesmal von durchschnittlichen, einfachen ungarischen Bürgern übernommen«, erklärt András Lederer vom Hungarian Helsinki Committee, das sich für Flüchtlinge einsetzt. »Das ist auch deshalb sehr wichtig, weil es zeigt: Selbst nach sieben Jahren Hasspropaganda ist die Gesellschaft wieder genauso mobilisiert und aktiviert wie damals. Auf das wie die Ungarn 2015 reagiert haben, kann diese Gesellschaft sehr stolz sein.«

Diesmal scheint Ministerpräsident Viktor Orban gezwungen, einen anderen Weg im Umgang mit den Flüchtlingen einzuschlagen. Die Regierung beschloss kürzlich ein Gesetz, welches es ukrainischen Staatsbürgern, aber auch Bürger aus Drittländern, die sich vorher legal in der Ukraine aufhielten, erlaubt, ohne jegliche Hindernisse nach Ungarn einzureisen und Asyl zu erhalten.

»Die Regierung hat sich jetzt richtig verhalten«, sagt Lederer. Das Gesetz gehe in eine sehr gute Richtung. Flüchtlingsfreundlich sei Orban deshalb noch lange nicht. Die neue Asylregelung beziehe sich nämlich lediglich auf über die Ukraine einreisende Flüchtlinge. »Der syrische Flüchtling, der zum Beispiel versucht, aus Serbien nach Ungarn zu kommen, kann auch weiterhin kein Asyl beantragen.«

Die Regierung habe gemerkt, dass man in der jetzigen Situation die Regelungen, welche es praktisch unmöglich machten, in Ungarn Asyl zu beantragen, nicht mehr halten könne. Doch die Folgen der gegen EU-Recht verstoßenden Regelungen seien immer noch spürbar. »Wenn man sieben Jahre lang fortwährend gegen Geflüchtete Hass geschürt hat, ist es natürlich schwer plötzlich über Nacht den Schalter umzulegen und zu sagen: Ach so, übrigens, es gibt auf der Welt schon auch ›echte‹ Flüchtlinge.«

Da bis Ende Februar in Ungarn praktisch keine normale, rechtsstaatliche Asylpolitik existierte, hapert es nun an der Umsetzung der neuen Bestimmungen. Von den mehr als 60 000 Flüchtlingen haben erst zehn Asylanträge gestellt. »Das Problem besteht darin, dass jetzt zwar alle über die Grenze gelassen werden, aber sie bisher überhaupt gar keine Information darüber bekommen von den ungarischen Asylstellen. Die Menschen wissen gar nicht, dass sie diesen Status beantragen müssen. Also die konkrete Implementierung dieser ansonsten sehr positiven Neuregelung fehlt«, erklärt Lederer.

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