Russische Truppen besetzen AKW

Nach Brand im ukrainischen Atomkraftwerk verurteilen Kiew und westliche Staaten das Vorgehen Moskaus

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

In der Nacht zum Freitag ist es zu einem Brand in einem Gebäude des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja gekommen. Nach ukrainischen Angaben war die Anlage von Panzern der russischen Armee angegriffen worden. Sie sollen für den Brand verantwortlich sein. Videobilder im Internet zeigten Explosionen und Rauchwolken über der Atomanlage. Das Innenministerium in Kiew teilte am Freitagmorgen mit, dass das Feuer gelöscht worden sei. Russische Soldaten hatten die Löschtrupps laut Feuerwehr aber erst nach Stunden zum Brandort durchgelassen. Gebrannt habe ein Trainingskomplex. Die Reaktorblöcke waren nicht betroffen und es sei keine erhöhte Radioaktivität gemessen worden, erklärte die ukrainische Aufsichtsbehörde. Russische Truppen hätten das Kraftwerk besetzt. Die Anlage ist das größte Atomkraftwerk in Europa. Sie verfügt über sechs Reaktoren. Aktuell ist nach Angaben der Behörde lediglich ein Reaktor in Betrieb. Einer ist demnach abgeschaltet, vier weitere werden gekühlt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhob schwere Vorwürfe. Russland betreibe »Nuklear-Terrorismus«. Kein anderes Land der Welt habe jemals Atomanlagen beschossen, so Selenskyj in einer Videobotschaft. »Der Terroristen-Staat verlegt sich jetzt auf Nuklear-Terror.« Offenbar wolle Russland die Atomkatastrophe von Tschernobyl »wiederholen«. Der Präsident meinte, dass das russische Militär gezielt auf das Kraftwerk geschossen habe: »Das sind mit Wärmebildkameras ausgerüstete Panzer, sie wissen also, worauf sie schießen.«

Das Verteidigungsministerium in Moskau verbreitete hingegen die Meldung, dass russische Truppen bereits seit Montag die Kontrolle »über die Stadt Enerhodar, das Kernkraftwerk Saporischschja und das angrenzende Gebiet« erlangt haben. Das Personal in Europas größtem Atomkraftwerk arbeite normal weiter, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow nach Angaben der Agentur Interfax. »Der Zweck der Provokation des Kiewer Regimes in der Nuklearanlage ist ein Versuch, Russland der Schaffung einer Brutstätte radioaktiver Kontamination zu beschuldigen«, sagte Konaschenkow.

Der britische Premierminister Boris Johnson verlangte nach dem AKW-Brand eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats. Johnson warf Russlands Präsident Wladimir Putin vor, sein »rücksichtsloses Verhalten« gefährde »die Sicherheit von ganz Europa«. Ähnlich äußerte sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag vor dem Sondertreffen der Nato-Außenminister in Brüssel. Er kritisierte auch die Angriffe auf ukrainische Zivilisten. Russland müsse seine Truppen unverzüglich abziehen, forderte Stoltenberg.

Bei dem Treffen der Nato-Minister ging es auch um die Forderung der Ukrainer nach einer Flugverbotszone für das Land. Der tschechische Außenminister Jan Lipavsky sprach sich dagegen aus. »Die Nato sollte sich nicht in diesen Konflikt hineinziehen lassen«, erklärte er. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn war ebenfalls zurückhaltend. Er warnte vor einer »Weltkatastrophe«, sollte es zu einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland kommen.

Repressionen in Russland

Bei seinem ersten Truppenbesuch als Bundeskanzler hat Olaf Scholz (SPD) ausgeschlossen, dass die Bundeswehr sich in irgendeiner Weise am Krieg um die Ukraine beteiligt. »Wir sind nicht Teil der militärischen Auseinandersetzung, die dort stattfindet und werden es auch nicht werden«, sagte Scholz am Freitag beim Besuch des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Schwielowsee bei Potsdam. »Es ist für uns völlig klar, dass die Nato und ihre Mitgliedstaaten sich nicht an dem Krieg beteiligen.«

In der Ukraine wird in vielen Gegenden weiter gekämpft. Das Atomkraftwerk Saporischschja liegt im Süden des Landes. Weiter nördlich setzte die russische Armee ihren Vormarsch auf die ukrainische Hauptstadt fort. »Die Hauptanstrengungen der Besatzer konzentrieren sich auf die Einkreisung Kiews«, hieß es am Freitag im Morgenbericht der ukrainischen Armee. Kiew löste seit Mitternacht mehrfach Luftalarm aus. Die Bewohner sollten sich in Luftschutzbunker in Sicherheit bringen. Laut ukrainischer Darstellung haben sich russische Soldaten von dem strategisch wichtigen Flugplatz Hostomel nordwestlich der Hauptstadt zurückgezogen. Die südukrainische Hafenstadt Mariupol sei aber komplett von feindlichen Kräften eingeschlossen. »Der Feind hatte einen erheblichen technischen Vorteil«, hieß es. Außerdem sei das Flugabwehrsystem an der Schwarzmeerküste angegriffen worden. Diese Angaben ließen sich jedoch nicht unabhängig überprüfen, so die Nachrichtenagentur dpa.

Am Donnerstagabend hatten sich Unterhändler Russlands und der Ukraine auf die Einrichtung humanitärer Korridore geeinigt. Damit soll Zivilisten die Flucht aus den Kriegsgebieten ermöglicht werden. Die genauen Regelungen blieben zunächst unklar. Der russische Delegationsleiter Wladimir Medinski sprach von einer »möglichen vorübergehenden Einstellung der Feindseligkeiten« in den Gebieten für den Zeitraum der Evakuierung. Welche der umkämpften Regionen er meinte, war aber nicht klar. Bald soll es eine weitere Verhandlungsrunde geben. Es gab keine Anzeichen dafür, dass in absehbarer Zeit eine flächendeckende Waffenruhe möglich sein könnte. Präsident Putin erklärte, die russische Offensive verlaufe »streng nach Zeitplan, genau nach Plan«. Russland befinde sich »im Krieg mit Neonazis«. Er werde »niemals« seine »Überzeugung aufgeben, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind«.

Innenpolitisch nutzt die russische Regierung den Krieg für weitere Repressionen im Inland. Am Freitag beschloss das russische Parlament, die Duma, dass die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russischen Streitkräfte mit drastischen Strafen belegt wird. Die Gesetzesänderung sieht hohe Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft vor. Am Freitag waren in dem Land die Websites von Facebook sowie von diversen Medien teilweise nicht erreichbar. Die Nichtregierungsorganisation GlobalCheck und Journalisten der Nachrichtenagentur AFP stellten Zugangsprobleme bei den Websites von Facebook sowie den Medien Deutsche Welle, Medusa, RFE-RL und dem russischsprachigen Dienst der BBC fest.

Der liberale Radiosender Echo Moskwy gab am Donnerstag seine Auflösung bekannt, nachdem er wegen seiner Berichterstattung über die Invasion in der Ukraine mit einem Sendeverbot belegt worden war. Auch der Fernsehsender Doschd wurde verboten.
Russische Medien hatten nach dem Angriff auf die Ukraine die Anweisung erhalten, nur offizielle Informationen der russischen Behörden für ihre Berichterstattung zu verwenden. Begriffe wie »Angriff« oder »Invasion« im Zusammenhang mit dem Einmarsch in die Ukraine wurden verboten. Die offizielle Bezeichnung der russischen Behörden für den Krieg gegen die Ukraine lautet »Sondereinsatz« des Militärs und Friedensmission zum Schutz russischsprachiger Ukrainer.

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