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- »Dissonanz« von Max Dax
Woher kommt dieser Zorn auf Literatur?
Einkaufszettel, Interviews und Bob Dylan: Ein Gespräch mit Max Dax über seinen Debütroman »Dissonanz«
Max Dax, in Ihrem Roman »Dissonanz« hält der Erzähler oft fest, was er isst und trinkt. Mal um Mal notiert er, mit welchen Verkehrsmitteln er sich bewegt. Nicht zuletzt interessiert ihn, ob es gerade regnet oder wie es am Himmel aussieht. Warum zählen Sie so viel auf?
Max Dax, 1969 in Kiel geboren, ist Publizist, Journalist, Fotograf und Grafiker. In den 90er Jahren gründete er die Interview-Zeitschrift »Alert« und arbeitete für den Hamburger Labelbetreiber Alfred Hilsberg. In den Nullerjahren leitete er als Chefredakteur das Popkampfblatt »Spex«. Seit 2011 ist Dax in gleicher Funktion für »Electronic Beats« tätig, ein Magazin für elektronische Tanzmusik, das von der Telekom vermarktet wird. In Berlin betreibt er mit Luci Lux die »Santa Lucia Galerie der Gespräche«. Als Mitglied der Band Transhuman Art Critics und des Kollektivs LAWBF macht er Musik. 2020 kompilierte er mit seinem Vater Fritz Bauer Aufnahmen für die CD »Maria Callas: Drama Queen« (Warner Classics). Im vergangenen Jahr erschien sein erster Roman »Dissonanz« im Merve-Verlag.
Weil ich ins Romanschreiben reinkommen wollte. Ich produziere zwar seit Jahrzehnten Texte, aber den Anlass zu einer Besprechung, einem Artikel oder einem Interview lieferten mir bisher fast immer andere. Doch für »Dissonanz« wollte ich mich selbst, ein Jahr meiner Lebenszeit, zum Anlass nehmen. Da hieß es erst mal neu überlegen, ob wirklich etwas auf eine Buchseite drängte. Um mich von der Frage nicht zu sehr einschüchtern zu lassen, habe ich notiert, was auf meinem Einkaufszettel stand. Das half. Denn aufgeschrieben wirkten …
… etwa »Pane di Altamura, Coda di rospo, Weißwein, Olivenöl, Petersilie, Knoblauch, Peperoncino, unbehandelte Zitronen«, wie es im Buch heißt …
… wie ein Gedicht. Dazu eins, indem ich akkurat mitteile, was ich denke. So ermöglichte mir der Einkaufszettel, mit dem Roman anzufangen.
Die Namen von Flughäfen, von ICEs und U-Bahnlinien verstärken von Seite zu Seite das Bedürfnis, dem Erzähler näherzukommen.
Bei mir war es umgekehrt. Ich brauchte Abstand. Denn die Ereignisse, welche 2009 und 2010 den Rohstoff für das Buch lieferten, waren mir zu nah.
Was war los?
Damals saß ich jeden Tag von früh bis spät am Schreibtisch und schrieb und schrieb. Zwischendurch ging die Bürotür auf und ein Kollege …
… aus der Redaktion des Popkulturmagazins »Spex«, dessen Chefredakteur Sie in dieser Zeit waren, …
… teilte mit, dass die Kaffeemaschine leckte. Dann klingelte das Telefon, als bekäme der Apparat selbst nicht genug Aufmerksamkeit und Klaus Theweleit war dran oder Mark E. Smith. Oder Gilbert & George wollten grüßen.
Nicht jeder bekommt Gelegenheit, mit so interessanten Menschen zu sprechen.
Natürlich hat das einen Glamour, und den bediene ich auch gern. Aber währenddessen kam ich mir allmählich wie ein Hüpfstein vor, den eine wild gewordene Brandung immer weiter rundete.
Diese Brandung, um im Bild zu bleiben, kommt in Höchstgeschwindigkeit auf Ihren Protagonisten »V2 Schneider« zu. Zu einem Konzert von Bob Dylan, das wenige Stunden später im Internet steht, fragt Schneider: »In was für einer Welt leben wir, dass sich die Grenzen der Zeit auflösen, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verschwimmen, Kontinente schrumpfen, die Menschen näherrücken?« Ist das Näherrücken der Menschen ein Problem?
Im Gegenteil, es fasziniert mich. Am späten Abend ein Konzert zu erleben und schon am folgenden Morgen die Aufnahme davon anzuhören, finde ich toll! Denn es erlaubt mir, in den Bewusstseinsstrom eines Anderen einzutauchen.
Was haben Sie von diesem Eintauchen?
Ich kann eine Arbeitsweise erkennen und vielleicht etwas davon für mich übernehmen. So ging es mir mit »The Chronicles« des erwähnten Sängers Dylan, einem der schönsten Bücher überhaupt. Dabei ist offensichtlich, dass der Verfasser dieser Memoiren darin kaum erzählt, was er wirklich erlebte. Wahrscheinlich hat er eher Reiseberichte aus dem Herrenmagazin »Esquire« aus einer Ausgabe von 1962 gecopyt und gepastet. Aber im Lauf der Bearbeitung verwandelte Dylan diese Berichte in eigene Erzählungen. Aus unterschiedlichsten Quellen montierte er Erinnerungen, die weniger wiedergaben, was passierte, als vielmehr, was für ihn gerade Gültigkeit hatte. So wollte ich auch in »Dissonanz« vorgehen.
Seit wann kennen Sie diese Freude, in einen Bewusstseinsstrom einzutauchen?
Seit ich als Teenager meine ersten Interviews führte. Ich fand gleich spannend, was andere denken. Dieser Aspekt wurde sogar noch wichtiger, als ich entdeckte, dass mich manchmal auch Interviews mit Leuten interessieren, weil sie berühmt sind, selbst wenn mir deren Werk nichts bedeutet. Zumindest hier oder da reicht mir ihre schiere Starpower, ihr Celebrity Status, ihr Promifaktor, um ein Gespräch mit ihnen zu verabreden. Denn ich gehe davon aus, dass auch sie etwas Bemerkenswertes erzählen können.
Der Leser begleitet Schneider entsprechend häufig auf der Hinfahrt zu oder auf der Rückreise von einem solchen Gespräch. Was passiert, wenn er sich mit jemandem zum Reden trifft?
Der Interviewte zerschlägt im Gespräch die Welt, wie Schneider sie bis dahin kannte. Die Spiegelscherben, die übrig bleiben, setzt Schneider zu einem neuen Porträt der Welt und des Interviewten zusammen.
Zu hübsch dürfen die Spiegelscherben aber nicht sein. Denn wenn Schneider seine Mitarbeiter mit einer flammenden Rede anspornt, trotz großen Zeitdrucks einen ambitionierten Bildband fertigzustellen, erfüllt gleich darauf »der Duft von frisch gebrühtem Arabica den Arbeitsraum«. Und wenn Schneider am Grab des Künstlers Raffael vor Bewunderung auf die Knie fällt, fließt umgehend »Arneis in unseren weißen Marmorkehlen«. Sobald die Erzählung droht, den Leser zu rühren, braucht es sofort eine Auflösung, hier durch Weißwein, dort durch Kaffee. Woher kommt in »Dissonanz« dieser Zorn auf Literatur?
Womöglich daher, dass ich nur bei ganz wenigen Autoren meiner Generation den Eindruck bekomme, dass sie die Zeit beschreiben, in der wir leben. Heiner Müller oder Rainald Goetz ist das gelungen. Aber die sind mindestens eine Generation älter. Doch auch ich möchte die Gegenwart mit Worten zu fassen kriegen. Manchmal auch nur mit wenigen Worten. Mit Punchlines. Mit einem Moment, der so tut, als wäre er ein Tag.
Nennt man nicht genau so einen Moment Literatur?
Also, sie haben jetzt ein paarmal »Literatur« gesagt. Doch mir ging es bei »Dissonanz« darum, eine Form zu finden, ob nun literarisch oder nicht, die mir entspricht. Die fand ich zum kleineren Teil in den erwähnten »Chronicles« oder auch in dem genialen ersten Abschnitt von Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht«. Aber noch mehr Anregungen lieferten mir die späten Filme Godards. Als die in die Kinos kamen, galten sie wegen der Medienbilderfluten, die sie enthalten, als »unverständlich«. Heute begreift sie jeder Sechsjährige, weil sich inzwischen alle längst an die Bilderfluten in sozialen Netzwerken und auf Videoportalen gewöhnt haben. Nur nicht an die Fragen, die Godard damit stellt: Was will eine Geschichte? Wer ist der, der sie erzählt?
Schneider erzählt nach einem Beziehungsende von einer privaten, mehrere Monate dauernden »Irrfahrt« durch Berlin. Während er leicht bedröppelt von einer Übernachtungsmöglichkeit zur nächsten wechselt, schrieben Sie beruflich eine Erfolgsgeschichte. Es gelang Ihnen, die Auflage von »Spex« zu steigern und renommierte Autoren für die Mitarbeit zu gewinnen. Dazu begegneten Sie dem in der ganzen Branche spürbaren Rückgang des Anzeigengeschäfts mit einer viel beachteten Werbung für den italienischen Nahrungsmittelhersteller De Cecco. Auch dieses Ereignis findet sich in »Dissonanz« wieder. Eine Frage dazu bleibt allerdings offen: Nudeln und die »Spex« verbindet nichts. Wie kam es zu dem Deal mit De Cecco?
Durch ein nächtliches Brainstorming mit Martin Hossbach, meinem Mitstreiter und Chef vom Dienst bei »Spex«. Da hatten die Marketing-Leute des Verlags, in dem das Magazin erschien, gerade vorgeschlagen, dass wir bei den nächsten Interviews doch unauffällig das Bier einer gewissen Marke mit aufs Foto der jeweils Interviewten schmuggeln könnten. Dafür würden wir viel Geld pro Ausgabe bekommen. Wir sollten also Schleichwerbung zulassen. Dagegen wollten Martin und ich uns humorvoll wehren, indem wir ein von »Spex« maximal entferntes Produkt so offensichtlich wie möglich platzierten, an der heiligsten Stelle im ganzen Heft: Im Impressum. Gegen Überlassung von einer Tonne Nudeln sind wir darüber mit De Cecco einig geworden. Zum Vertragsabschluss stiegen deren Vertriebsleiter Luca Ruffini und der Journalist aus Berlin aufs Dach des Firmensitzes in Fara San Martino. Das Foto, wie sich die beiden dort die Hände schütteln, versahen wir mit der Unterzeile »Der historische Händedruck«. Als es in »Spex« erschien, griffen sämtliche Zeitungen diese Geschichte auf. Hätten wir sie als Drehbuch einem Filmproduzenten angeboten, hätte der wahrscheinlich gesagt: »Das ist doch viel zu absurd!« Aber es hat alles genauso stattgefunden.
In Ihrem Buch wird das Verhältnis des Absurden zu dem, was tatsächlich stattfindet, anregend neu verhandelt. Hat Sie das Romanschreiben auf eine neue Einsicht gebracht?
Ja. Ich bewege mich durch ein weites Feld und finde dort nie ein unbeschriebenes Blatt.
Max Dax: Dissonanz. Ein austauschbares Jahr. Merve, 365 S., br., 28 €.
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Dieses Interview wurde aus presserechtlichen Gründen gegenüber der Printfassung geringfügig verändert. Die Redaktion
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