Endstation Bihać

Ubaid kommt aus Pakistan und ist auf der Flucht in die Europäische Union. Die kroatische Grenzregion ist für ihn unüberwindbar

  • Iván Furlan Cano, Bihać
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Bauruine ragt zwischen Wohnhäusern und dem Fluss Una einsam in die Höhe. Meterhohe verrostete Gitter versperren die Eingänge und Öffnungen in der Fassade. Polizist*innen kontrollieren regelmäßig den Leerstand. Geräumt wurde das Gebäude im Stadtzentrum von Bihać im Mai. Im Winter zuvor hatte es knapp 150 Geflüchteten halbwegs Schutz in den kalten Wintermonaten geboten.

Mittlerweile haben es die Geflüchteten aufgegeben, wieder hier einzuziehen. Ubaid ist einer von ihnen, der bis zur Räumung in dem halbfertigen Altersheim lebte. Seit mittlerweile über zwei Jahren ist er in der kleinen Stadt nahe der kroatischen Grenze gestrandet. Vergangenes Jahr trafen wir ihn in seinem Zimmer in der Bauruine. Dort lebte der Paschtune mit seinem Cousin Hassan und vier weiteren Männern. Hassan schaffte es im Juni nach Italien, Ubaid versucht dagegen immer noch in die EU zu gelangen, er sitzt bereits seinen zweiten Winter in Bihać fest. »Ich habe einfach Pech«, sagt der 31-Jährige.

Er sitzt auf zwei Holzpaletten vor einer kleinen Ruine an einem der wenigen sonnigen Wintertage in Bosnien und Herzegowina. Seit der Räumung von »Dom Penzionera« lebt er gemeinsam mit fünf weiteren jungen Männern in einem kleinen, verlassenen Haus außerhalb der Stadt. Abgelegen in einem Tal zwischen einem Park, Gebüschen und Wohnhäusern ist es von der Straße kaum einsehbar. Im Innenraum steht ein Zelt, auf der anderen Seite stapeln sich mehrere Matratzen und Schlafsäcke. Die beiden Eingänge sind provisorisch mit Decken abgehängt. In der Mitte steht ein Ofen, mit dem geheizt und gekocht wird. Verraucht ist es.

Ubaids Leben ist eintönig. Meistens ist er erst am Nachmittag wach, nachts kann er oft nicht schlafen. Die Temperaturen waren im Januar extrem kalt, teilweise fielen sie auf minus 11 Grad Celsius. Mittlerweile ist es etwas milder geworden. Die Zeit verbringt er dann am Feuer, schaut Filme oder ist stundenlang auf Facebook. Am Nachmittag verbringt er seine Zeit bei Baba. Ihm gehört ein Kiosk im Stadtzentrum von Bihać, ganz in der Nähe der geräumten Bauruine. Hier kann Ubaid sein Handy laden und sich mit Freunden treffen. Sonst gebe es nichts zu tun, sagt er. »Nicht einmal arbeiten darf ich.« Alle paar Tage ruft seine Familie an, fast täglich sein Cousin Hassan in Italien. Dabei kommt immer wieder die gleiche Frage: »Wann gehst du wieder los in Richtung Italien?« Abends kochen sie in der Ruine, und alles geht wieder von vorne los. Ein Kreislauf, aus dem es für ihn seit über zwei Jahren kein Entkommen gibt.

In dem großen Gebäude im Stadtzentrum sei es besser gewesen, meint er. »Dort war zumindest immer etwas los. Wo immer man auch hinging, waren Menschen.« Man kannte sich untereinander, konnte sich unterhalten. Mit der endgültigen Räumung hat sich für Ubaid und seine Freunde einiges verändert. Jetzt muss er mehrere Kilometer zurücklegen, um ins Stadtzentrum oder in andere Squats, also wilde Camps am Stadtrand zu gelangen. Die Geflüchteten sind isoliert - von der lokalen Bevölkerung und auch voneinander.

Schikanen der Polizei gibt es nach wie vor. Erst wenige Tage vor unserem Wiedersehen hat die lokale Polizei die Ruine geräumt, in der Ubaid mit seinen Freunden wohnt. Sie seien ins 25 Kilometer entfernte Camp Lipa gebracht worden, berichtet er. Dabei hätten die Beamten so gut wie alles zerstört, was sie finden konnten. Essen, Zelte, Kleidung. Sechs Stunden später seien sie wieder zurück gewesen. Das käme öfters vor, erzählt er. Aber in Lipa bleiben, das ist für Ubaid und seine Freunde keine Option.

Das Flüchtlingscamp in Lipa wurde durch einen Brand im Dezember 2020 fast vollständig zerstört. An derselben Stelle entstand ein neues Lager - abseits einer kurvigen Landstraße, die durch die Berge Bosniens führt, vorbei an weiten Feldern und Schildern, die vor Minen aus dem Bürgerkrieg warnen. Am 19. November 2021 wurde es offiziell eröffnet. 1500 Geflüchtete können hier unterkommen, bei Bedarf ist es möglich, die Kapazitäten zu verdoppeln.

Überall auf dem Gelände stehen weiße Baucontainer. Die provisorischen olivgrünen Militärzelte aus dem vorigen Winter, die nach dem Brand aufgestellt wurden, sind nicht mehr dort. Die Leitung des Camps hat die Ausländerbehörde übernommen, unterstützt wird sie von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und mehreren Nichtregierungsorganisationen. Finanziert wurde der Bau des Camps mit EU-Geldern sowie der Unterstützung mehrerer europäischer Staaten.

Alles in dem wiederaufgebauten Camp sei mittlerweile besser als im alten, versichert ein Mitarbeiter, der übers Gelände führt. Es gäbe immer warmes Wasser, Heizungen und Essen. Und doch bleibt ein Problem bestehen, weshalb Menschen wie Ubaid den bosnischen Winter trotz alledem in kleinen Hütten oder Zelten am Stadtrand von Bihać verbringen: Bis zum nächsten Dorf sind es mehr als zehn Kilometer zu Fuß. Hier oben zu sein, bedeutet in Isolation zu leben.

Wer ins Lager will, muss einen Camp-Ausweis am Eingang vorweisen. Wer das nicht kann, kommt fünf Tage in Isolation. Neben dem Eingang stehen Container für Duschen, Toiletten, Schlafplätze. Es gibt auch eine größere Lagerhalle, dahinter überdachte Feuerstellen. In der Halle ist die Essensausgabe. Links sitzen alleinstehende Männer, rechts gibt es Bereiche für Familien und unbegleitete Minderjährige. In den Schlafräumen stehen jeweils drei Hochbetten. Sechs Menschen leben hier auf etwas mehr als zwölf Quadratmetern, auch im neuen Camp gibt es keine Privatsphäre.

Es ist schwierig, mit Bewohner*innen auf dem Gelände ins Gespräch zu kommen. Nach dem Rundgang, der einer PR-Veranstaltung gleicht, erzählt ein junger Mann außerhalb des Lagers, dass das Essen nicht schmecke. Immer dasselbe und meistens nicht gut, sagt er. »Jetzt ist es ein bisschen besser als vorher.« Warmes Wasser gebe es auch nur manchmal. »Aber wenn ich weiter erzähle, kann das Probleme geben.« Er hört auf und verabschiedet sich.

Ende des letzten Jahres versuchte Ubaid zum 28. Mal sein Glück, in die Europäische Union zu gelangen. Doch auch dieses Mal fasste ihn die kroatische Polizei und verprügelte ihn. Mit dem Tonfa, einem Gummiknüppel, schlugen sie ihm auf den Rücken und die Beine. Anschließend wurde er an die bosnisch-kroatische Grenze in der Nähe von Velika Kladuša gebracht, im Norden des Kantons Una-Sana. Meistens erwischen sie ihn in Kroatien, manchmal aber auch viele Kilometer weiter in Slowenien. Man merkt, wie ihm die Lage zusetzt. Nur selten lächelt er.

Einen Überblick über solche illegalen Zurückweisungen gibt das Border Violence Monitoring Network. Im vorigen Jahr hat das Projekt insgesamt 164 Pushbacks an der bosnisch-kroatischen Grenze dokumentiert, von denen etwa 2500 Menschen betroffen gewesen seien. Entlang der gesamten Balkanroute schätzt das Netzwerk, dass rund 20 000 Geflüchtete Opfer dieser unerlaubten Abschiebungen geworden sind. Illegal deshalb, weil den Menschen keine Möglichkeit eingeräumt wird, einen Asylantrag zu stellen.

Nachdem es im vergangenen Oktober erstmals visuelle Beweise für Pushbacks gab, hat das kroatische Innenministerium Besserung versprochen. Es gab auch drei symbolische Entlassungen von Grenzschutzbeamten, aber der Rechtsbruch an der EU-Außengrenze geht trotzdem unvermindert weiter.

Ubaid will es erneut versuchen. Bevor er nach Bosnien und Herzegowina kam, war er mehrere Jahre in der Türkei. Eigentlich kommt der Paschtune aus Pakistan, er lebte in der Grenzregion zu Afghanistan. Geflüchtet war er wegen der radikalislamischen Taliban, weil sie versucht hatten, ihn und einige seiner Bekannten zu rekrutieren. Immer wieder gab es in der Region Anschläge, auch in seiner Heimatstadt. Trotz der vielen misslungenen Versuche hält er an seinem Ziel fest, die Europäische Union zu erreichen. Dort möchte er ein neues Leben in Sicherheit beginnen. Dafür hat er Familie und Freunde zurückgelassen.

Es ist kurz nach Mitternacht, als einer der sechs Geflüchteten schweißgebadet aufwacht und sich übergibt. Er ist seit einem Tag krank, in dieser Nacht hat sich sein Zustand verschlechtert. Draußen ist es eisig, minus sechs Grad. Verzweifelt versuchen sie, Hilfsorganisationen zu kontaktieren, doch keine ist erreichbar. Seine Freunde entscheiden sich, Hilfe in einem nahe gelegenen Familiencamp zu holen. Sie hoffen, dass ein Notarzt oder eine Ärztin kommt. Doch an den Toren werden sie von einer IOM-Mitarbeiterin schulterzuckend abgewiesen. Beistand erhalten sie in dieser Nacht wie so oft von Freiwilligen. Hauptsächlich sie versorgen die Geflüchteten außerhalb der offiziellen Camps. Auch in der lokalen Bevölkerung gibt es noch immer Menschen, die sie unterstützen.

Ganz in der Nähe von Ubaids Unterkunft wohnt Saida* in einem kleinen Haus am Stadtrand, zusammen mit ihrem Vater und ihren beiden Söhnen. Sie ist Ende zwanzig und schaut aus dem Fenster. Einige junge Männer laufen durch den Garten. Gemeinsam mit ihrem Vater unterstützt sie Geflüchtete, lädt ihnen Handys und Powerbanks auf, versorgt sie mit Feuerholz und Essen oder lässt sie bei sich duschen.

Tödliche Grenze. Ins bosnische Bihać zurückgeschobene Geflüchtete fordern kroatische Behörden auf, ihren in einem Fluss ertrunkenen Freund zu suchen

Nicht nur einmal gab es deshalb Ärger mit den Nachbarn und der Polizei. Einer lasse immer die Hunde los, wenn Geflüchtete zu Saida laufen, erzählt sie. Aber abhalten lässt sie sich davon nicht. »Ich glaube nicht, dass ich jemals aufhören werde, ihnen zu helfen«, sagt sie. »Erst wenn wir sie als Menschen ansehen, dann kann sich etwas ändern«, sagt sie, während im Hintergrund ein junger Geflüchteter den Raum betritt. Er ist gerade gescheitert, die Grenze zu überwinden und wurde illegal zurückgeschickt.

*Name aus Sicherheitsgründen geändert

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