- Wirtschaft und Umwelt
- Ukraine-Krieg
Das Dilemma der EZB
Die Preise in der Eurozone steigen rasant und die Wirtschaft lahmt
Mit der breit angelegten Offensive Russlands in der Ukraine tritt ein Szenario ein, mit dem die meisten Kapitalmarktteilnehmer wohl immer gerechnet hatten, dessen Wahrscheinlichkeit aber schlimmstenfalls als minimal betrachtet wurde. Doch nun kommt alles auf einmal: Europas Wirtschaft wird vom Krieg ausgebremst, internationale Lieferketten reißen erneut, die Coronakrise ist noch längst nicht ausgestanden, Öl-, Gas- und Goldpreise klettern auf astronomische Rekordhöhen, auch die alltäglichen Lebenshaltungskosten steigen und der Euro verliert an Wert.
Rudolf Hickel erwartet vor diesem Hintergrund: »Die Stagflation kommt sicher!«, sagt der Bremer Ökonom gegenüber »nd.derTag«. Schon die aktuelle Inflationsrate im Euroraum - das statistische Amt der Europäischen Union schätzt sie aktuell für Februar auf 5,8 Prozent - lässt Ökonomen erschauern. Offenbar verschwindet die Inflation doch nicht so schnell wieder, wie es die Europäische Zentralbank (EZB) und viele Fachleute lange erwartet haben.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Gleichzeitig bremsen neben den seit März 2020 ohnehin grassierenden Problemen, wie den extrem hohen Transportkosten, nun auch die gegen Russland und Belarus verhängten Sanktionen viele Unternehmen aus. Außerdem verliert die Gemeinschaftswährung gegenüber dem US-Dollar deutlich an Wert. Was für exportstarke Länder wie Deutschland oder die Niederlande von Vorteil sein kann, puscht in vielen Ländern vor allem die Preise für Importe von Energie, Baustoffen und Nahrungsmitteln zusätzlich in die Höhe und wird zur »sozialen Frage«. In der Mehrzahl der Euro-Staaten droht nun eine Rezession.
Sinkende Wirtschaftsleistung bei gleichzeitig steigenden Preisen bezeichnen Wirtschaftswissenschaftler als »Stagflation«. Notenbanken beschert ein solches Szenario ein Dilemma: Um die Preise auf ein verträgliches Maß zu senken, müssten sie nach der gängigen Lehre ihre Leitzinsen erhöhen; um die Wirtschaft anzukurbeln (was allerdings nur mittelbar Aufgabe der EZB ist), müssten sie aber die Zinsen senken. Beides gleichzeitig, Zinsen senken und Zinsen erhöhen, ist natürlich unmöglich.
Die seltene Stagflation gilt unter Experten als eine der schlimmsten Geißeln des modernen Kapitalismus. Während der Ölkrisen in den 1970er Jahren kämpften Westeuropa, die USA und Japan mit diesem Phänomen. Mit dem dadurch eingeläuteten Ende des Nachkriegsaufschwungs begann die Ära der Massenarbeitslosigkeit. Gleichzeitig stiegen die Inflationsraten bis auf 19 Prozent in Italien und selbst in der Bundesrepublik beliefen sie sich auf 7,8 Prozent. »Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit«, kritisierte damals Kanzler und Volkswirt Helmut Schmidt (SPD) die Bundesbank, die damals ihre Leitzinsen weiter anhob, was die Wirtschaft belastete und die Arbeitslosigkeit beförderte.
Noch Mitte Februar dieses Jahres schien es ziemlich sicher, dass der EZB-Rat auf seiner Sitzung diesen Donnerstag in Frankfurt am Main das Ende der Nettoanleihenkäufe zum September beschließen würde. Schließlich hatte zuvor eine ganze Reihe von Ratsmitgliedern genau dies signalisiert. Allgemein war vor Ausbruch des Krieges sogar damit gerechnet worden, so die Commerzbank-Analysten, dass die EZB es nicht bei diesem ersten Schritt belassen würde, sondern kurz nach dem Ende der Nettokäufe auch ihren Strafzins von 0,5 Prozent, den Banken zahlen müssen, wenn sie ihr Geld bei der Zentralbank parken müssen, senken würde.
Das wäre eine - zumindest kleine - Abkehr von der extrem lockeren Geldpolitik, mit der die EZB auf die Finanz- und später Coronakrise reagiert hatte, in kleinsten. Nun forderten in einer regelmäßigen Umfrage des Münchner Ifo-Instituts unter deutschen Wirtschaftsprofessoren 69 Prozent von EZB-Präsidentin Christine Lagarde eine Erhöhung der Leitzinsen. Was einem großen Schritt Lagardes gleichkäme, aber die wirtschaftliche Erholung in diesem und im nächsten Jahr weiter belasten könnte. Andere mögliche Maßnahmen, wie ein Ende der »quantitativen Lockerung« (darunter der Kauf von Staatsanleihen), finden freilich kaum Beifall.
Ökonom Hickel hält von einer solchen Leitzinserhöhung nichts. Er empfiehlt dem EZB-Rat, stillzuhalten. Die aktuellen Preissteigerungen seien keine klassische Inflation. Die trete nur ein, wenn die gesamtwirtschaftliche Nachfrage größer sei als das Angebot. »Die Situation haben wir nicht«, so Hickel. Die Preise steigen nicht auf breiter Front, lediglich strategische Preise explodierten, etwa die für Heizöl, Gas und Kohle. Auch Industrierohstoffe wie Kupfer oder Aluminium sind sehr viel teurer geworden, gleiches gilt für Frachtkosten auf hoher See und damit für die Kosten der globalen Lieferketten.
Die Geldpolitik könne die strategischen Preise nicht beeinflussen, warnt Hickel. Deshalb brächte eine Zinserhöhung nichts. Im Gegenteil: Da die meisten Unternehmen in Deutschland und Eurozone kreditfinanziert arbeiten, würde eine Zinserhöhung die Konjunkturerholung zusätzlich gefährden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.