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  • Automatisierung

Die Konflikte verlaufen in neuen Bahnen

Neue Arbeitsregimes der algorithmischen Arbeitssteuerung und die Widerstände dagegen

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.

Simon Schaupp ist Oberassistent am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel. Er

forscht vor allem zur Transformation der Arbeitswelt, zur Digitalisierung und zur ökologischen Krise. Seine Dissertation »Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung« ist 2021 bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Schaupp ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Zentrums Emanzipatorische Technikforschung (ZET) sowie Mitherausgeber der Zeitschrift »Work, Employment and Society«. Das Gespräch führte Axel Berger.

Seit Jahrzehnten wird davon gesprochen, dass im modernen Kapitalismus die Arbeit ausgehen würde. In deinem Buch widersprichst du dieser These. Warum also bleibt die völlige Automatisierung der Produktion und auch bei Dienstleistungen aus?

Technisch wäre eine weitreichende Automatisierung der Produktion durchaus möglich. Für die Implementierung von Technologien in Unternehmen ist das aber nicht ausschlaggebend. Stattdessen geht es um die Frage, was sich ökonomisch lohnt – und da sieht es ganz anders aus. Seit den 1970er Jahren haben wir es mit einem Rückgang der Investitionsquoten zu tun. Das heißt, anteilig werden immer weniger Gewinne aus der Produktion in Anlagenkapital, wie z.B. die Robotik, investiert. Stattdessen wird immer mehr Kapital auf Finanzmärkte verschoben, weil es dort flexibler und profitabler angelegt werden kann.

Du hast in diesem Zusammenhang beobachtet, dass die Investitionen in die teure Robotik in den letzten beiden Jahrzehnten hinter jenen in die weitaus billigere »algorithmische Arbeitssteuerung« zurückgeblieben sind.

Ja. Denn trotz des Absinkens der Investitionsquoten in das Anlagekapital muss die Produktion natürlich stets rationalisiert werden. Die algorithmische Arbeitssteuerung bietet da eine attraktive Alternative zur Automatisierung. Sie macht es möglich, große Mengen niedrig qualifizierter und schlecht bezahlter Arbeit in die Produktionsprozesse einzubinden. Etwa durch die »Fernsteuerung« von Arbeit, die man von den Essenslieferkurieren kennt. Oder durch Arbeitsleitsysteme, die ganz genaue Anweisungen geben und Arbeitsprozesse damit vereinfachen. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Einbindung migrantischer Arbeiter:innen durch sprachlich konfigurierbare oder bildbasierte Systeme.

Ist es also effizienter, Menschen zu Robotern zu machen, als sie durch welche zu ersetzen?

Nein, effizient ist das nicht. Aber es ist billiger. Gerade in Deutschland gibt es einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Diese gut verfügbaren, billigen Arbeitskräfte durch Roboter zu ersetzen, lohnt sich zumeist nicht.

Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität gehörte schon immer zum Arsenal der einzelnen Kapitalisten, um einerseits die Profite zu erhöhen und andererseits gegenüber den Konkurrenten nicht zurückzufallen. Stellt die Digitalisierung der Arbeitswelt hier also nicht nur die neueste Entwicklung in diesem Prozess dar? Denn vieles erinnert ja durchaus an Frederick Taylors »Wissenschaftliche Methoden der Betriebsführung«.

Ja und nein. Wie beim Taylorismus geht es bei der algorithmischen Arbeitssteuerung um eine Dequalifizierung und Verdichtung der manuellen Arbeit. Ein wichtiger Unterschied ist aber, dass es nicht mehr nur um eine Standardisierung im Sinne allgemeinverbindlicher Vorgaben geht. Stattdessen werden Daten aus den Arbeitsprozessen erhoben und als Feedback an die Leute zurückgeleitet. Die sollen ihre Arbeit dann auf Grundlage dieser Feedbacks kontinuierlich optimieren. In Bezug auf die Arbeitsproduktivität sind viele der neuen digitalen Geschäftsmodelle, wie etwa der Onlineversandhandel oder die Lieferdienste, ein Produktivitätsrückschritt. In diesen Sektoren wird mehr statt weniger menschliche Arbeit benötigt.

Du hast dir das sehr konkret in verschiedenen Sektoren angeguckt. Welche Arten dieser algorithmischen Arbeitssteuerung konntest du ausmachen?

Ich habe in einer Fabrik gearbeitet, in der wir einen Bildschirm vor uns hatten, der mit Bild und Text detailliert angezeigt hat, was wir zu tun haben. Jeden Arbeitsschritt musste man bestätigen, dazwischen wurde jeweils die Zeit gemessen. Das sollte gleichzeitig eine Vereinfachung und eine Beschleunigung der Arbeit bewirken. Bei dem Lieferdienst, bei dem ich gearbeitet habe, wurden die Anweisungen über eine Smartphone-App gegeben, die auch die Arbeit überwacht hat. Das sind typische Beispiele. Es gibt aber auch extremere Fälle, wie etwa einen digitalen Handschuh, der bei unerwünschten Bewegungen vibriert.

Wie viele Arbeitsplätze, etwa in Deutschland, betreffen diese Maßnahmen?

Eine genaue Zahl lässt sich nicht nennen, aber in fast allen Sektoren arbeiten mittlerweile viele Leute mit digital gesteuerten Prozessen, auch im Dienstleistungs- und Bürobereich. Die Pandemie hat diesen Trend noch einmal beschleunigt. So können etwa im Homeoffice automatisch aufgezeichnete Metadaten von zum Beispiel Onlinemeetings zur Leistungskontrolle genutzt werden.

Um die Szenarien der Implementierung und der Konflikte um dieses neue Arbeitsregime analysieren zu können, nutzt du den Begriff der Technopolitik. Was ist darunter genau zu verstehen?

Technopolitik bezeichnet eine Politik im Modus der Technologie. Damit verweise ich zum einen darauf, dass Algorithmen immer schon politische Technologien sind. Sie geben Anweisungen, ähnlich wie Organisationsregeln oder Gesetze. Während wir die Letzteren im Alltag unproblematisch als politisch identifizieren, fällt uns das bei technisch-objektiv daherkommenden Computerprogrammen oft schwer. Andererseits geht es mir darum, wegzukommen vom klassischen Begriff der Technologiepolitik als demjenigen Teil des staatlichen Handelns, der sich mit der Regulation von Technik beschäftigt. Das ist ein Teil von Technopolitik, aber nur ein kleiner. Ganz wichtig sind auch Auseinandersetzungen um die alltägliche Verwendung von Technologie. Deshalb unterscheide ich zwischen drei Arenen der Technopolitik: Regulation, Implementierung und Aneignung.

Dich interessiert dabei vor allem die Perspektive von unten. Welche Konfliktlinien waren hier besonders auszumachen?

Ich habe in zwei verschiedenen Branchen geforscht: Der Plattformlogistik und der sogenannten »Industrie 4.0«, also der digitalisierten produzierenden Industrie. Bei den Plattformen, also den Lieferdiensten und dem Onlineversandhandel, geht es bei den Konflikten vor allem um materielle Arbeitsbedingungen. Da ist Lohnklau an der Tagesordnung, die Leute haben fast ausschließlich befristete Verträge, sie werden permanent gehetzt. Einer meiner Kollegen beim Lieferdienst ist sogar obdachlos geworden, weil der Lohn mehrere Monate nacheinander nicht oder falsch ausgezahlt wurde. In den Industrieunternehmen ging es viel um Würde. Da arbeiten meist Facharbeiter, die ihren Job schon lange machen. Die bekommen dann ein Arbeitsleitsystem vorgesetzt, das ihnen detailliert sagt, was sie zu tun haben. In vielen Fällen hat das regelrechte Empörung verursacht. Die Menschen hatten das Gefühl, zu Robotern gemacht zu werden.

Die Konflikte scheinen zuzunehmen. Der Streik beim Lieferdienst Gorillas etwa wurde auch von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Dabei handelte es sich ja nicht nur um einen wilden Streik, sondern auch um einen durch die Kuriere weitgehend selbstorganisierten. Wird dies das vorherrschende Szenario künftiger Auseinandersetzungen dieses »kybernetischen Proletariats« werden? Und könntest du den Begriff erklären?

Die Plattformökonomie ist in der Tat gekennzeichnet von informellen Auseinandersetzungen. Das liegt daran, dass die Unternehmen recht gewerkschaftsfeindlich sind und die großen Gewerkschaften andererseits auch Schwierigkeiten haben, in solchen prekären Bereichen Fuß zu fassen. Deshalb dominieren hier Betriebsgruppen und Basisgewerkschaften. In letzter Zeit konnten diese einige Erfolge aufweisen, was dazu geführt hat, dass sich auch größere Gewerkschaften einschalten. Interessanterweise konnte ich aber auch in den Industriebetrieben viele informelle Widerstandspraktiken in Bezug auf Digitalisierung beobachten, die jenseits der institutionellen Bahnen von Gewerkschaft und Betriebsrat verliefen.

Unter kybernetischer Proletarisierung verstehe ich eine Abwertungsspirale in dem Bereich der digital gesteuerten körperlichen Arbeit, die ich untersucht habe. Die Arbeitsprozesse werden vereinfacht und verdichtet. Dadurch kommt es zu einer qualitativen und quantitativen Verdrängung menschlicher Arbeit aus den Produktionsprozessen. Andererseits kommt es aber durch neue Geschäftsmodelle, deren technische Grundlage die algorithmische Arbeitssteuerung ist, zur massenhaften Reintegration menschlicher Arbeit unter prekären Bedingungen. Diese Arbeit wird wiederum der Dequalifizierung und Verdichtung unterworfen. Je mehr Zyklen dieser Spirale bestimmte Beschäftigte durchlaufen haben, desto eher können sie als kybernetisches Proletariat bezeichnet werden.

Du schreibst, dass dieses »kybernetische Proletariat möglicherweise sogar zum Kern einer erneuerten Arbeiter:innenbewegung werden« könnte. Worauf basiert diese Hoffnung?

Als die durchrationalisierten Autofabriken aufkamen, glaubten viele, dass die Beschäftigten sich dort unmöglich organisieren könnten. Zu abgewertet sei die Arbeit und zu stark kontrolliert. Heute gibt es fast denselben Diskurs in Bezug auf die digital gesteuerte Arbeit. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Branchen wie die Lieferplattformen weisen eine deutlich höhere Konfliktintensität auf als praktisch alle anderen Branchen. Die Konflikte verlaufen aber in neuen Bahnen, weshalb es uns manchmal schwerfällt, das zu sehen. Es gibt weniger formelle Tarifauseinandersetzungen, dafür aber wilde Streiks und massenhaften technologischen Ungehorsam. Wenn die beschriebene Abwertungsdynamik weitergeht, werden sich ziemlich sicher auch die Konflikte zuspitzen.

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