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Das Ziel muss ein stabiler Frieden sein

Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen - Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

  • Paul Schäfer
  • Lesedauer: 13 Min.

Das Entsetzen ist groß über den Krieg Putins, das Leid, das er in der Region, aber auch weltweit verursacht: Wo soll das enden? Und erschrocken sind wir auch: Wie schnell die Bundesregierung, die Mehrzahl der Medien und nahezu alle Parteien auf die Logik der Konfrontation und der Hochrüstung einschwenken.

Die neue Lage ist: Wir haben die programmatischen Ansprachen Putins als Propaganda für das heimische Publikum angesehen. Von »historischen Gebieten« war die Rede, die als natürliche Einflussbereiche reklamiert wurden; der Ukraine wurde gar das Existenzrecht abgesprochen. Nun wissen wir: Es war ernst gemeint.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Welche Kriegsziele verfolgt das Putin-Regime?

Die Losung, die Ukraine »entmilitarisieren« und »entnazifizieren« zu wollen, besagt: Der generalstabsmäßig geplante russische Angriff ist der Versuch, in der Ukraine ein willfähriges System zu etablieren (»regime change«), das den russischen Ambitionen, die Ukraine dem eigenen Herrschaftsbereich zu unterstellen, entgegenkommt.

Wie ist diese Invasion strategisch einzuordnen?

Mit dem Angriffskrieg wird die Absicht untermauert, den postsowjetischen Raum (von Belarus bis Zentralasien) als unverrückbares russisches Einflussgebiet zu befestigen. Die Russische Föderation ist damit zu einer revisionistischen, neozaristischen Macht geworden, die sich über die Grundsätze und Festlegungen der UN-Charta (Artikel 1 »Selbstbestimmung der Völker« und Artikel 2 »Gewaltverbot«), der KSZE-Konferenz 1975 (»Unverletzbarkeit der Grenzen«, der Charta von Paris 1991 (»gemeinsames Haus Europa«), des Budapester Abkommens von 1994 (Entnuklearisierung der Ukraine gegen die Zusage, die Souveränität Kiews zu wahren) hinwegsetzt und eine Neuordnung dieses Großraums auch mit Gewaltmitteln festschreiben will.

Was ist das Besondere der gegenwärtigen Lage?

Im linken Lager wird auf Kriege der USA in Vietnam, in vielen Teilen der Welt, auf den Nato-Krieg im Kosovo, die US-geführte Invasion im Irak, auf frühere Völkerrechtsbrüche verwiesen. Das ist richtig. Dennoch: Putin ist der »Imperialist des Tages«. Und wir sollten aufpassen, dass diese Bezüge nicht als Relativierung des gegenwärtigen Angriffskrieges aufgefasst werden.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sollten wir die unterschiedlichen Dimensionen beachten: Als 1999 inmitten des Krieges um Kosovo ein russisches Regiment einen Teil des Flughafens in Pristina besetzte, wurde dies von allen Seiten als symbolischen Akt nach dem Motto »Wir sind auch noch da« verstanden. Heute stehen wir am Rande einer militärischen Konfrontation zwischen Nato und Russland, die den Weltfrieden bedroht. Dies erinnert an die zugespitzte Lage während der Kuba-Krise 1962. Präsident Putin hat anderen Staaten, die »sich von der Seite einmischen«, indirekt, aber unmissverständlich mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht (»Konsequenzen, die sie noch nie in der Geschichte erlebt haben«) und seine strategischen Abschreckungskräfte, zu denen die Nuklearwaffen, gehören in Alarmbereitschaft versetzt. Wie besorgt die Weltgemeinschaft ist, hat die präzedenzlose Ablehnung des Krieges durch 141 Mitglieder der UN-Generalversammlung gezeigt.

Wie wurde Paulus zum Saulus oder: Wie ist es so weit gekommen?

2001 wurde Wladimir Putin im Deutschen Bundestag für seine auf Kooperation ausgerichtete Rede mit »standing ovations« bedacht. Bei der Sicherheitskonferenz in München 2007 empörte er sich, dass man auf seine Angebote für eine neue europäische Friedensordnung nicht eingegangen sei und Russland permanent demütige. Der erfahrene US-Diplomat George Kennan hat 1997 mit seiner düsteren Prognose, die Nato-Osterweiterung würde in Russland nationalistische und militaristische Tendenzen begünstigen, leider recht gehabt. Dieser Prozess wurde durch die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollabkommen (zum Beispiel Raketenabwehrvertrag 2002 durch die USA) weiter angeheizt.

Aber den Wandlungsprozess im Kreml ausschließlich damit zu begründen, greift zu kurz. Erinnern wir uns: Die Duma-Wahl 2011 war von heftigen Protesten im Land begleitet. Erstmals hatte sich in nennenswertem Umfang eine wirkliche Opposition zu Wort gemeldet, die das Putin-Regime dazu veranlasste, Wahlfälschungen zu begehen und hart gegen jegliche Opposition vorzugehen. Dazu verbündete sich die Putin-Partei mit der extremen Rechten im Lande, die konsequent die Rolle des faschistoiden Mobs gegen zivilgesellschaftliche Bewegungen einnahm.

Eine Schlussfolgerung daraus: Es geht dem Putin-Lager um den eigenen Machterhalt. Dazu greift man auf eine Methode zurück, die wir von Despoten kennen: der Feind, das sind »auswärtige Agenten und Mächte«. Dass es um reaktionäre Regimeinteressen geht, haben zuletzt auch die Interventionen in Belarus und Kasachstan gezeigt. In diesem Rahmen sind die engen Bindungen der Putin-Partei mit einer zusehends globalisierten extremen Rechten nicht zu übersehen.

Es ist schon erstaunlich, dass auch in linken Betrachtungen Russlands der militärisch-industrielle Komplex so gut wie nicht vorkommt. Dabei spielt der militärische Sektor neben den fossilen Energiekonzernen eine tragende Rolle bei den Staatseinnahmen des Landes. Und für das Putin-Regime sind Waffenexporte von strategischer Bedeutung zur Mehrung internationalen Einflusses. Der Machtkomplex aus Rohstoff- und Rüstungskonzernen ist die Machtbasis Putins. Wenn diese Annahme richtig ist, wären dann nicht andere Schlüsse zu ziehen als heute üblich? Partnerschaften zur Umstellung auf erneuerbare Energien und Abrüstungsvereinbarungen wären dann die Konsequenz. Wenn nicht heute, so morgen!

Wie verhält es sich mit den russischen Sicherheitsinteressen?

Betrachten wir es nüchtern: Russland ist nicht existenziell bedroht. Schon allein dadurch, dass niemand die Absicht hat, in Russland militärisch einzufallen. Auch die Generalität und die politische Führung in Moskau wissen das. Und selbst ein Nato-Beitritt der Ukraine, der den Aufbau zusätzlicher militärischer Infrastruktur nach sich ziehen würde, bedroht Russland nicht existenziell. Der Preis eines konventionellen Krieges wäre für beide Seiten nicht bezahlbar und würde wahrscheinlich auch eine nukleare Konfrontation als letzte Eskalationsstufe einschließen. Russlands Rückversicherung liegt - ob es uns gefällt oder nicht - in seinem nuklearen Waffenpotenzial, genauer: in der Sicherung seiner Zweitschlagfähigkeit. Daher waren und sind die Sorgen Russlands nach der Ankündigung Raketenabwehrsysteme auch in Rumänien oder Polen zu stationieren, vollauf berechtigt. Aber dafür fängt man keinen Krieg in der Ukraine an, sondern forciert Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen und wendet sich an die Weltöffentlichkeit.

Und nur zur Erinnerung: Der Ausgangspunkt des gewaltförmigen Streits um die Ukraine war nicht der Beitritt des Landes zur Nato - der war nach 2008 auf Eis gelegt. Es ging um das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union! Dass sich die nach dem Maidan-Aufstand ins Amt gekommene ukrainische Führung für die EU entscheiden wollte, hat die Annexion der Krim und die militärisch abgestützte Separation im Donbass ausgelöst. Die eigentliche Bedeutung von Pufferzonen: Freiheitlich-demokratische Reformen in Osteuropa sieht man als Gefährdung des eigenen, autokratischen Systems, die man nicht toleriert.

Müssen linke Geschichtsbilder revidiert werden?

Ja. Sahra Wagenknecht hat auf einem ihrer Podcasts beispielhaft dargelegt, wie Geschichtslegenden auf der linken Seite aussehen. Ihr Plädoyer für eine russlandfreundliche Politik begründet sie aus der Geschichte: Russland sei immer wieder »vom Westen« angegriffen worden, und dies habe sich in das kollektive Gedächtnis der Russen eingegraben. Letzteres hat gewiss Richtiges. Sie räumt knapp ein, dass es auch Phasen russischer Dominanz im Rahmen des Warschauer Vertrages gegeben habe. In diesem Weltbild kommen die rollenden Panzer in Ost-Berlin 1953, in Budapest 1956 und Prag 1968 offenbar nicht vor.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt, der zur Inbesitznahme und Auslöschung Polens führte, wird in linken Erzählungen als Akt schierer Verteidigung gedeutet, um Zeit und Raum gegen die Nazis zu gewinnen. Katyn? Schrecklich, aber dem Furor des Krieges geschuldet. Dass es dabei um die vorsätzliche und systematische »Liquidierung« der polnischen Führungselite ging, um den Pufferstaat Polen in unseliger russischer Tradition vom Erdball zu tilgen, wird dabei negiert. Die Sorge unserer östlichen Nachbarn vor einem russischen Imperialismus hat sich in deren kollektives Gedächtnis eingegraben (wie auch in Finnland, das ebenfalls überfallen wurde).

Das eigentliche Trauma, das heute die russische Führung prägt, ist der Verlust an Weltgeltung (= Supermacht auf Augenhöhe mit den USA). Auch hier ist Putin wörtlich zu nehmen. Der Satz vom Untergang der UdSSR als größter geopolitischer (sic!) Tragödie des 20. Jahrhunderts ist so einfach zu entschlüsseln. Diese Großmachtambitionen stehen in krassem Missverhältnis zur Wirklichkeit. Russland verfügt über ein Bruttoinlandsprodukt wie Italien. Es stützt sich vorwiegend auf Energiequellen, die keine Zukunft mehr haben. Der Versuch, dies durch militärische Macht auszugleichen ist aussichtslos und dennoch brandgefährlich. Gerade deshalb müssen Wege gefunden werden, wie das »unverrückbare Russland« (Egon Bahr) einen respektierten Platz in der Staatengemeinschaft wiederfinden kann.

Was ist in dieser Situation aus der Entspannungspolitik der 70er Jahre zu lernen?

Willy Brandt und Bahr haben ihre »neue Ostpolitik« trotz Mauerbau 1961 und CSSR-Einmarsch 1968 eingeleitet. Aus der Tatsache, dass ein Atomkrieg niemals gewinn- und daher nicht führbar sei, leiteten sie das Konzept »gemeinsamer Sicherheit« ab. Die nukleare Eskalationsgefahr sollte gebannt werden; die Anerkennung des territorialen Status quo sollte helfen, Vertrauen zwischen West und Ost aufzubauen und den Weg für konkrete Schritte der Abrüstung freimachen. Last not least: Der Eiserne Vorhang sollte durchlässig gemacht werden, nicht zuletzt aus humanitären Gründen. Es war zugleich erklärte Absicht, dadurch Spielräume für demokratische Prozesse zu vergrößern.

Was unsere Ausgangslage heute so schwierig macht: Russlands Versuch, ein postsowjetisches Regime wieder zu errichten, ist damit verbunden, die erreichten demokratischen Spielräumen in den Nachbarländern (wie immer man das dortige Oligarchentum, die Korruption etc. beurteilen mag) zu eliminieren. Auf diese neue Situation brauchen wir eine Antwort. Wir werden am Ende des Tages wieder bei den Grundsätzen der Entspannungspolitik und konkreten Vorschlägen zur De-Eskalation, der Rüstungskontrolle, für eine atomwaffenfreie Welt landen. Durchzusetzen ist dies gegen den autoritären Nationalismus unserer Tage.

Solidarität mit der Ukraine - auch mit Waffenlieferungen?

Die Ukraine hat gemäß Artikel 51 der Uno-Charta das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Und die ukrainische Bevölkerung scheint bereit zu sein, dies auch durchzufechten. Ob dazu Waffenlieferungen hilfreich und unumgänglich sind, ist sorgfältig abzuwägen.

Wir sollten diese Frage vom Umgang mit dem »normalen« Rüstungsexportgeschäft abkoppeln. Diesbezüglich gelten alle Forderungen nach einer besonders restriktiven Politik weiter uneingeschränkt. Das Argument, dass aus historischen Gründen zur Abstinenz verpflichtet sei, sticht nicht. Man kann es auch umdrehen. Die Ukraine, die auch Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war, die jetzt zum zweiten Male angegriffen wird, ist in ihrem Existenzkampf zu unterstützen.

Bis zum 24. 2. gab es gewichtige Einwände: Was ist mit den irregulären, schwer kontrollierbaren Milizen auf dem Kriegsschauplatz, die sich der Waffen bemächtigen könnten? Könnte die ukrainische Führung, gestützt auf effiziente Geräte wie bewaffneten Kampfdrohnen (die im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt kriegsentscheidend waren), versucht sein - trotz der Georgien-Erfahrung -, eine gewaltsame Entscheidung im Donbass zu suchen?

Jetzt stellt sich die Frage, ob eine militärische Unterstützung nur noch zu einem mörderischen Abnutzungskrieg beiträgt, wie er sich womöglich abzeichnet. Zu bedenken ist auch, dass die Nato mit ihren Waffenlieferungen immer mehr in das Kriegsgeschehen hineingezogen wird. Ist eine solche Eskalation des Krieges vertretbar?

Aber ist es andererseits nicht richtig, den Preis für die russische Aggression durch bewaffneten Widerstand möglichst weit hochzutreiben? Wie sonst soll Moskau zum Umdenken gebracht werden? Und welche Demoralisierung löste es aus, wenn die Ukraine im Bombenhagel allein gelassen würde?

Ich gestehe: Ich bin ratlos. Statt Antworten aus dem Bauch heraus brauchen wir hier kollektives Nachdenken.

Ziviler Widerstand als Alternative?

Die Ukraine hat sich zum militärischen Widerstand gegen die Aggression von außen entschieden. Dass damit entsetzliche Opfer verbunden sind, ist unvermeidlich. Wäre es da nicht besser, von vornherein die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren? Die pazifistische Haltung verlangt genau dies. Sie verbindet dies mit dem Vorschlag, Besatzungsmächten mit zivilen Mitteln entgegenzutreten. Dies wird gerne als rettungslos naiv, weltfremd abgetan. Und wenn das Kriegsgetöse tobt, erscheint diese Idee besonders abseitig. Wir sollten dem widersprechen. Ziviler Widerstand ist angesichts der Zerstörungspotenziale moderner Streitkräfte durchaus in Betracht zu ziehen. Und verfügen wir nicht heute durch öffentliche und soziale Medien, durch eine vernetzte Zivilgesellschaft über neue Möglichkeiten ziviler Gegenwehr? Die globale Delegitimierung brutaler Herrschaft ist eine scharfe Waffe. Wir tun gut daran, in der Tradition Mahatma Gandhis Gewaltfreiheit als Alternative zum Kriegsfuror zu verteidigen.

Andererseits: Die epochale Abschüttelung des kolonialen Jochs Mitte des vorigen Jahrhunderts wäre ohne Gewalt nicht möglich gewesen. Und die Vorstellung, man hätte die Weltherrschaftspläne Hitler-Deutschlands mit der weißen Fahne durchkreuzen können, fällt schwer. Was bedeutet es, wenn die Kriegsherren mit ihren Gewaltaktionen durchkommen und ihre expansiven Ziele erreichen? Der Appetit kommt beim Essen. In Extremsituation werden wir bewaffnete Gegengewalt akzeptieren müssen und zugleich an einer Welt arbeiten, in denen ein Friede mit friedlichen Mitteln eine Chance hat.

Was ist mit Sanktionen zu erreichen?

Ein Sanktionspaket wie jetzt gegen Russland beschlossen, hat es in dieser Form wohl noch nie gegeben (Ausnahme: Nordkorea/Iran/Irak). Und es ist erkennbar, dass diese Maßnahmen kurzfristig wirken. Richtig ist aber auch, dass die Abschnürung Russlands von der globalen Wirtschaftszusammenarbeit die gesamte Bevölkerung des Landes empfindlich treffen wird. Das gilt wahrscheinlich auch für uns. Trotzdem herrscht allenthalben die Einsicht vor, dass man der russischen Aggression nicht nur mit Appellen begegnen kann. Die Bereitschaft, auf wirtschaftliche Sanktionen zu setzen, ist groß - auch unter Linken. Und war die Embargopolitik gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika nicht erfolgreich? Die Ukrainer*innen würden diese Politik mittragen.

Unter dem Strich führt kein Weg an der Logik vorbei, dass der Preis, den das Putin-Regime für seine Aggression zu zahlen hat, sehr hoch sein und die Vorteile der Besatzung überwiegen muss. Aber Vorsicht: Die vielfältigen Interdependenzen in der Welt aufsprengen zu wollen, kann nicht gut gehen. Nach den Negativerfahrungen mit nicht eingehaltenen Versprechungen aus dem Iran-Nuklearabkommen bleibt zudem die strikte Forderung: Sanktionen sind konditioniert zu verhängen und müssen sukzessive aufgehoben, durch weitreichende Kooperationsangebote ersetzt werden, wenn ein Friedensprozess in Gang kommt.

Wie gehen wir mit der Aufrüstungsoffensive der Bundesregierung um?

Ein zusätzliches 100-Milliarden-Rüstungsprogramm lehnen wir ab; das pauschale Zwei-Prozent-Aufrüstungsziel ist unsinnig. Immerhin zeigt das in Aussicht gestellte, 100 Milliarden Euro umfassende Sondervermögen, dass die Schuldenbremse ausgedient hat und sehr viel Geld vorhanden ist. Es könnte durch Vermögensabgaben noch aufgestockt werden. Der Kampf um die Verteilung dieser Mittel hat begonnen. Wir werden uns dafür stark machen, dass erhebliche Mittel für die zivile Konfliktbearbeitung, für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, für die ökologische Transformation und die soziale Abfederung der ökonomischen Folgen der Sanktionspolitik aufgewandt werden. Das ist wirkliche Sicherheitsvorsorge. Unser Ceterum Censeo bleibt, alle ad-hoc-Maßnahmen mit grundsätzlichen Perspektiven eines stabilen Friedens in Europa zu verknüpfen.

Was den Mittelabfluss an die Streitkräfte angeht, gilt es zuvörderst zu klären, wo das ganze Geld bleibt, das die Bundeswehr Jahr für Jahr zu verbrennen scheint - wenn die Aussage stimmt, dass die Truppe nicht einsatzbereit sein sollte.

In diesem Rahmen sollten wir neu über eine Bundeswehr als Verteidigungsarmee nachdenken. Dabei können wir an eine Debatte aus den 80er Jahren unter der Überschrift »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« anknüpfen. Nur ein Hinweis: Das kleine Finnland etwa hat sehr wenig Panzer, mit denen man eine raumgreifende Offensive durchführen könnte, aber eine »schlagkräftige« Artillerie. Es ist bei modernem Kriegsgerät zugegebenermaßen sehr schwierig, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden. Wie ein anderes Streitkräftedispositiv aussehen würde, wie hoch die Kosten einer möglichen Umrüstung sind, wissen wir nicht genau. Ein solches Konzept kann nicht ohne militärischen Sachverstand entwickelt werden. Dazu wird Die Linke ihre Einstellung gegenüber der Bundeswehr ändern müssen - ohne ihren Anspruch auf eine Welt ohne Armeen aufzugeben.

Noch eine gedankliche Provokation zum Schluss: Die baltischen Staaten, Polen, alle osteuropäischen Nachbarn halten die Nato auf absehbare Zeit für ihre Risikoversicherung. Das gilt nach dem russischen Angriffskrieg umso mehr. Jetzt orientieren sich auch unsere nördlichen Nachbarn Finnland und Schweden auf diesen Schutzschirm. Sind wir da gut beraten, wenn wir den Austritt Deutschlands aus den militärischen Strukturen der Allianz fordern? Andererseits: Wozu solle es gut sein, dass sich an der Nahtstelle der Konfrontation immer zerstörerische Waffensysteme und immer mehr Soldaten gegenüberstehen? Über Initiativen zur De-Eskalation und Abrüstung wird man zu gegebener Zeit sprechen müssen - im Bündnis.

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