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Der Fortschritt der Ampel-Koalition ist gestoppt

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine setzt die Bundesregierung auf eine Militarisierung der Außen- und Fiskalpolitik

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Benimmregel schreibt vor, es solle mit einem Urteil über eine neue Regierung 100 Tage gewartet werden. Damit ist diesmal nicht viel anzufangen. Die Ampelregierung hatte nur 78 Tage Zeit, um zu zeigen, wie sie ihren Koalitionsvertrag umsetzen wolle und könne: von der Vereidigung des Kanzlers Scholz am 8. Dezember 2021 bis zum russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Danach wurde die alte Agenda in der Außen- und Sicherheitspolitik umgeworfen, in ihren anderen Teilen bestenfalls suspendiert. Bis dahin war in Deutschland wenig geschehen, viel schon aber rings herum in der Welt. Beides hängt miteinander zusammen.

Die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP traf auf ein Umfeld, das ihren Vorhaben nicht günstig war. Zu viel lag und liegt im Weg: Corona, Kriegsgefahr von Anfang an, Staatsverschuldung, Inflation. Die beiden Großprojekte der ersten Regierungserklärung von Scholz: Klimawandel und Digitalisierung verschwanden bald nach der Kabinettbildung aus den Schlagzeilen.

Die Pandemie war als Last der Vergangenheit zu bewältigen. Der Fachmann an der Spitze des Gesundheitsministeriums bekam schnell zu spüren, dass die FDP entschlossen war, der Umsetzung seines Expertenwissens Hindernisse in den Weg zu legen. Finanzminister Christian Lindner verkündete übereilt einen Freedom Day, drängte das Kabinett dazu, die baldige Aufhebung der pandemischen Notlage von nationaler Bedeutung zu verkünden, und Gesundheitsminister Karl Lauterbach durfte noch nicht einmal eine Regierungsvorlage für ein Impfgesetz einbringen.

Immerhin machte Arbeitsminister Hubertus Heil auch in der Ampelkoalition einen ordentlichen Job. Der Mindestlohn von 12 Euro wird kommen, die Kurzarbeits-Regelung wegen Corona wurde verlängert. Es gibt Sonderzahlungen wegen der Belastungen durch die Pandemie. Das ist aber im Vergleich zur vorangegangenen Großen Koalition nichts Neues.
Inzwischen, lange vor dem 24. Februar, hatten die Spannungen um die Ukraine die Corona-Themen zu ersetzen begonnen: als das zweite große – unvergleichlich größere – Problem, das die Regierung angeblich oder tatsächlich daran hindert, ihre zentralen Versprechen, insbesondere die Verhinderung einer Klimakatastrophe, rasch anzupacken.
Zunächst schien Scholz erfolgreich den Politikstil seiner Vorgängerin Angela Merkel fortführen zu können. Er schwieg zu den Anti-China- und Anti-Russland-Reden seiner Außenministerin Annalena Baerbock, galt als ein Mann mit ruhigem Blut in der Aufregung und soll mit Genugtuung von einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zurückgekommen sein: kein Grund zur Aufregung.

Am 27. Januar, drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, rief der Kanzler im Bundestag eine Zeitenwende aus. Die Verurteilung der Aggression wurde von Regierung, Parlament, veröffentlichter Meinung und – soweit sich das feststellen lässt – der Bevölkerung einhellig geteilt. Jenseits dieser Selbstverständlichkeit fragt sich, was daraus folgt. Eine Antwort von Scholz ist unter anderem: Militarisierung nicht nur der deutschen Außen-, sondern auch Fiskalpolitik.

Die Nato-Norm für Rüstungsausgaben – zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt – soll überboten werden. Der aktuelle Wehrhaushalt wird durch 100 Milliarden Euro aufgestockt. Deutschland liefert Kriegswaffen an die Ukraine. Finanzminister Lindner gibt seine Sparpolitik zumindest zwischenzeitlich auf und kündigt die Verankerung eines Sondervermögens für Rüstung im Grundgesetz an. Damit würde die Bundesrepublik zu einem fiskalischen Kriegsführungsstaat, also einem Warfare State, in Permanenz. Offenbar soll dies nicht für die Dauer des Ukraine-Kriegs allein gelten, denn dadurch, dass die Etablierung des Rüstungsfonds Verfassungsrang erhält, ist er auf Dauer gestellt. Deshalb ist zu vermuten, dass es zugleich um die langfristige Einreihung Deutschlands an der Seite der USA in einen neuen Kalten Krieg, diesmal vor allem gegen China, geht.

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump, sein Nachfolger Joe Biden und Annalena Baerbock hatten dieses Land schon vor dem 24. Februar als Hauptfeind für den sogenannten Westen identifiziert. Osteuropa wäre dann in diesem Ringen nur ein Nebenschauplatz, auf dem aber eine Initialzündung ausgelöst wurde, wie in den Marokko-Krisen (1904-1906, 1911), dem Bosnienkrieg von 1908 und bei dem Mordanschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie in Sarajevo am 28. Juni 1914. Darauf folgte der Erste Weltkrieg. Es gibt eine weitere Parallele: Die italienische Invasion in Abessinien 1935 und der Spanische Bürgerkrieg 1936 bis 1939 gingen dem Zweiten Weltkrieg voraus.

Was wird also auf das Ukraine-Debakel folgen? Die Frage, ob Deutschland und die EU einem solchen Showdown fernbleiben sollen oder können, mag Thema zentraler innereuropäischer Auseinandersetzung sein.

Zu den aktuellen Kollateralschäden gehört eine Uniformierung der öffentlichen Meinung, die geschichtsblind macht. Hierher gehört die Behauptung, dass erstmals nach 1945 der Krieg wieder in Europa eingekehrt sei. Verdrängt und verschwiegen werden dabei die bewaffneten Auseinandersetzungen währen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und der völkerrechtswidrige Angriff auf Jugoslawien durch die Nato im Jahr 1999. Wer im Februar dieses Jahres bei öffentlichen Kundgebungen das russische Vorgehen unzweideutig verurteilte und zugleich die vorangegangenen Ost-Erweiterungen der Nato kritisch erwähnte, musste gewärtigen, niedergebrüllt zu werden. Dies ist tatsächlich geschehen. In Marburg meinte der Oberbürgermeister eine Rednerin, die dies wagte, zu ihrem eigenen Schutz vom Mikrofon wegziehen zu müssen. In der Sondersitzung des Bundestags waren es allein die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel und andere Redner ihrer Fraktion, die – zugleich mit ihren Forderungen nach Hochrüstung, Rückkehr zur Atomkraft und anderem Gift – die Nato-Erweiterungen problematisierten.

Eine ähnliche Szene spielte sich im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ab. Der AfD-Abgeordnete Horst Förster sagte, die Ausdehnung des Nordatlantik-Pakts entschuldige die russische Aggression nicht, müsse aber zu deren Erklärung herangezogen werden. Zugleich verlangte er, ukrainische Geflüchtete seien nach Ende der Kampfhandlungen zurückzuschicken.

Vielleicht denken die anderen Parteien später einmal darüber nach, ob es klug war, der AfD ein Alleinstellungsmerkmal bei der Charakterisierung des Umfelds der Katastrophe einzuräumen und dies mit ihrer rassistischen Hetze zu kombinieren. Selbst wer der zutreffenden Ansicht ist, die Nato-Osterweiterungen seien nicht der Grund, sondern nur der Anlass und Vorwand für die russische Aggression, sollte die Vorgeschichte nicht gänzlich ausblenden.

Vorderhand gerät ein zentrales Ziel der Ampelkoalition hinter den Horizont: die schnellstmögliche Konzentration aller verfügbaren Mittel auf die Verhinderung der mittelfristig drohenden Klimakatastrophe. Zu deren Bewältigung wurden Summen in fast astronomischer Höhe genannt. Die 100 Milliarden für die Rüstung können wohl kaum einfach draufgesattelt werden. Minister Robert Habeck räumte ein, dass zur Vermeidung von Lieferengpässen für Energie möglicherweise die Laufzeiten für Atom- und Kohlekraftwerke verlängert werden müssten. Sicherheit gehe jetzt vor Umweltschutz. Der Fortschritt, den die Ampelkoalition wagen wollte, ist gestoppt.

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