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Neuanfang am Jabal Al-Hoss
Stickerinnen haben in Syrien ihre traditionelle Arbeit wieder aufgenommen - auch wenn der Krieg noch nachwirkt
Eigentlich sollte das Wetter schlecht sein, doch dann wölbst sich am Morgen ein strahlend blauer Himmel über das vom Krieg geschundene Land. Der heftige Regen in der Nacht hat große Pfützen und viel Schlamm auf den Straßen hinterlassen, die teilweise unbefestigt durch die kleinen Dörfer führen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Geschäftsfrau Heike Weber ist mit dem Fahrer Joseph auf dem Weg zu den Stickerinnen vom Jabal al-Hoss, einer Hochebene im Umland von Aleppo. Die Frauen haben bis 2012 für das Stickereiprojekt Anat gearbeitet. Der Krieg habe die Stickerinnen in alle Himmelsrichtungen vertrieben, erzählt Heike Weber, selber eine begnadete Handarbeiterin, während Joseph den Wagen geschickt um die tiefen Schlaglöcher steuert. Die Kontakte zu den Frauen waren abgebrochen, bis sie Ende 2021 plötzlich von ihnen angerufen worden sei. »Eine rief aus dem Libanon an, andere aus Aleppo und aus Orten um Aleppo herum,« sagt sie. Sie hätten von Frauen erzählt, die jetzt in den Gebieten unter den Kurden, oder an der türkischen Grenze in Azaz teilweise in Lagern lebten. »Alle wollen wieder nach Hause, und alle wollen wieder arbeiten«, seufzt Heike Weber. Sie habe sich so sehr gefreut, dass sie noch leben.
Über soziale Medien hatten die Frauen erfahren, dass ihre Arbeiten bei einer Ausstellung in Damaskus zu sehen waren. Heike Weber hatte dort über die Bedeutung der syrischen Stickerei gesprochen und die Nadelmalerei der Frauen vom Jabal al-Hoss hervorgehoben. Schnell hatte sich das unter den Stickerinnen verbreitet, die ihre Dörfer verlassen mussten, als Kämpfer des Islamischen Staates vorrückten.
Unweit von Sfireh, einem Verkehrsknotenpunkt zwischen Khanasir und Aleppo, biegt der Wagen hinter einer kleinen Moschee ab in das Dorf Tall Hazal. Die Häuser liegen hinter Mauern, die die Bewohner vor ungebetenen Blicken schützen. Vor den Mauern hocken Männer. Die Alten tragen die Keffieh auf dem Kopf, die auf ihre Stammesherkunft als Beduinen hinweist. Die Jüngeren haben Jeans und Windjacke an.
In einer Sackgasse kommt der Wagen zum Stehen. Hier liegt das Haus von Türkiye, einer etwa 40-jährigen resoluten Frau, die den Gast aus Damaskus schon erwartet hat. »Herzlich Willkommen, Friede sei mit Euch. Kommt herein, kommt zum Ofen. Seit gestern haben wir nur darüber gesprochen, dass Du kommst«, sagt sie zu Heike Weber, die beiden Frauen strahlen sich an. Dann begleitet Türkiye die Gäste durch eine weite Eingangshalle, in der erwartungsvoll rund ein Dutzend andere Frauen stehen und Heike Weber mit »Umm Haitham« begrüßen, die »Mutter von Haitham«.
In der Mitte des Zimmers, das den Frauen vorbehalten ist, steht ein bollernder Ofen, um den herum Sitzkissen ausgebreitet sind. Gegenüber der Tür ist das einzige Fenster, durch das gleißend das Licht der Morgensonne fällt. Die Gäste nehmen Platz. Etwas abseits liegt ein Säugling in warme Decken gehüllt und schläft friedlich.
Die Frauen haben ihre Arbeiten vor sich ausgebreitet und blicken erwartungsvoll. Während Türkiye die Bilder der einzelnen Stickerinnen vor Heike Weber ausbreitet, zeigt Fedha dem Fahrer Joseph eines ihrer Bilder: »Hier sieh, das war unser Dorf, als die Terroristen kamen. Sie haben die Schule besetzt und uns alle verjagt.« IS-Kämpfer mit langen Kutten und dichten Bärten sind zu sehen. Über ihren Schultern tragen sie Gewehre. Im Mittelpunkt des kunstvoll gestickten Bildes ist ein großes Gebäude, über dessen Eingang »Schule von Huir al Hoss« steht. Auf dem Dach weht die schwarze Fahne des »Islamischen Staates« und verkündet »La ilaha illa Allah«, es gibt keinen Gott außer Gott.
»Diese Bilder sind von Sana, sie hat das Dorfleben vor dem Krieg gestickt. Und diese Arbeit ist von meiner Tochter, aber sie hat erst mit der Nadelmalerei angefangen.« Türkiye preist die Bilder an und weiß sich und die Arbeit der Frauen zu vermarkten: »Wir kennen uns seit mehr als zwanzig Jahren, Du kannst Dich auf uns verlassen«, wirbt sie um das Wohlwollen der Geschäftsfrau. Die Frauen bräuchten mehr Arbeit und auch eine bessere Bezahlung. Auch für sich selber möchte Türkiye einen Aufschlag bekommen, schließlich koordiniere sie die Arbeit, das sei eine große Verantwortung. Die Frauen um sie herum lachen und blicken auf Heike Weber, um zu hören, wie sie reagieren wird.
Heike Weber weiß, dass die angebotene Bezahlung der Arbeit nicht gerecht werden kann, zumal das Leben für alle Familien schwer und teuer geworden ist. Sie verweist auf die schwierige Wirtschaftslage und wendet ein, dass sie den Verkaufsladen von Anat und die Handarbeitswerkstatt in Damaskus wegen des Krieges aufgeben musste.
»Ich muss verkaufen, um auch Euch besser bezahlen zu können.« Das Material sei teuer und auf dem Markt nicht mehr zu finden. Für ein Knäuel Stickgarn müsse sie 7000 Syrische Pfund bezahlen, vor dem Krieg habe es 45 Syrische Pfund gekostet, rechnet sie vor. Auch sei die Qualität nicht mehr so gut wie früher. Zudem gebe es kaum Kundschaft, die einen angemessenen Preis für die Stickereien bezahlen wollten oder könnten.
Schließlich sind die Argumente ausgetauscht und Kaffee wird gereicht. Dann beginnt Heike Weber unter den aufmerksamen Augen von Türkiye die Preise für die Bilder auszurechnen und jede Stickerin erhält ihr Geld. Es ist etwas mehr als zuvor vereinbart, doch nicht wirklich der kunstvollen Arbeit angemessen, weiß Heike Weber. Im März werde sie nach Dubai, auf die Expo fahren und die Arbeit der Stickerinnen vom Jabal al-Hoss ausstellen, sagt sie. Sie hoffe, dort neue Kunden zu finden, damit es in Zukunft wieder mehr Beschäftigung für sie gibt.
Stickerei als kulturelles Erbe
Rund tausend Frauen in Dörfern der Provinzen Aleppo, Idlib, Homs, Damaskus und Sweida arbeiteten für das Stickereiprojekt Anat in Damaskus, erzählt Heike Weber, während die Fahrt weiter nach Huir al Hoss geht. Die regional unterschiedlichen Stickereien schmückten Schals, Tischdecken und Kissenbezüge, Taschen, Blusen, Jacken und Kleider mit Mustern, die weit in die Geschichte und Mythologie der Region zurückreichen.
Die Kunst der Stickerei sei ein kulturelles Erbe, sagt Heike Weber nachdenklich. Um das Wissen darüber zu erhalten, versuche sie, neue Verkaufsideen zu entwickeln. Zum Glück hätten die Stickerinnen ihr Können an ihre Töchter weitergegeben, so bliebe die Hoffnung, dass die junge Generation die Arbeit fortsetzen und vielleicht auch weiterentwickeln könne.
Der Jabal al-Hoss, der Berg Hoss, ist eine weitläufige Hochebene, die sich mit flachen Tälern und schmalen Schluchten südöstlich von Aleppo in Richtung syrischer Wüste erstreckt. Ganz anders als auf den farbenfrohen Bildern der Stickerinnen präsentiert sich der Jabal al-Hoss in braunen Schattierungen. Der Boden ist karg und mit Steinen übersät, kaum ein Baum weit und breit, Dörfer mit Bienenkorbhäusern, auch Kubba genannt und Gehöfte liegen vereinzelt. Dort sind die Steine zu kleinen Mauern aufgeschichtet, die einzelne Felder abtrennen, auf denen Weizen und Gerste wachsen sowie Kichererbsen und Linsen. Viele Familien leben von der Schafzucht, sofern sie ihre Herden über den Krieg retten konnten. Die Tiere geben Milch und Fleisch und können - besonders vor dem Fastenmonat Ramadan - auf dem Viehmarkt verkauft werden. Erst kürzlich war das Gebiet vom Militär wieder frei gegeben worden, doch noch immer gibt es militärische Kontrollpunkte, an denen Reisende sich ausweisen müssen.
Die Stickerin Maha lebt mit ihrer Familie im eigenen Haus in Huir al Hoss, einem weitläufigen Dorf auf rund 800 Meter Höhe. Obwohl die Sonne scheint, ist es kalt. Der Wind jagt um das einfache Haus, in dem es dunkel und kühl ist. Mit Mützen, Schals und warmen Jacken versuchen die Menschen sich warm zu halten. Heizen können sie nicht.
Maha versteht es, die kunstvolle Milan-Spitze zu fertigen, die auch Nadelspitzen-Stickerei genannt wird. Zwei Jacken hat sie angefertigt, die sie vor Heike Weber auf dem Teppich ausbreitet. Das schwarze Garn sei sehr schlecht, klagt Maha. Es reiße und sei kaum zu verarbeiten. Dennoch ist es ihr gelungen, die feinen Spitzenjacken zu sticken, die vielleicht eines Tages von reichen Frauen wie Schmuck über ihren Abendkleidern getragen werden. Heike Weber ist zufrieden und bezahlt Maha für die Arbeit. Dann besprechen die beiden Frauen die Arbeit an einer mit Baumwolle gefütterten Weste, die noch nicht fertig ist.
Ihre Verhandlungen werden aufmerksam von Mahas Tochter und ihrem Ehemann Osama Mohammad Al Ali verfolgt. Zwischen ihnen sitzt der Jüngste der Familie, »der großartige Hamouda« wie sein Vater ihn vorstellt. »Er wurde 16 Jahre nach seiner Schwester geboren.«
Das Familienhaus habe er selber gebaut, erzählt Osama. Bis 2013 habe er auf Baustellen in Jordanien, Libanon, Zypern und in der Türkei gearbeitet. Dann sei sein Neffe, ein Polizist, von der Nusra-Front ermordet worden, er und seine Familie seien nach Afrin geflohen. 2018 habe er gesehen, wie die Türkei in Afrin eingefallen sei. 18 Tage lang habe er sich mit der Familie und den Schafen versteckt, bis die »Syrer kamen, die die Türkei unterstützen«. Weil er sich nicht bewaffnen wollte, sei er erneut mit seiner Familie geflohen. 2019 hätten sie in ihr Haus in Huir al Hoss zurückkehren können.
Ohne Wasser und fast ohne Strom
Nie habe er sich vorstellen können, dass so ein Krieg in seinem Land hereinbrechen könnte, fügt er hinzu. Sollte es Arbeit geben, werde er wieder ins Ausland gehen, doch nicht in den Libanon und auf keinen Fall in die Türkei, fügt er hinzu: »Am liebsten nach Zypern, dort hat es mir gut gefallen.«
Seine Familie ist klein, das Land gehört ihm, auf dem er das Haus gebaut hat. 20 Schafe haben sie, doch es fehlt an Wasser. Das muss er von einem Tankwagen alle zwei Wochen kaufen. »Wir sammeln Regenwasser, in diesem Winter hat es viel geregnet. Doch Strom gibt es nicht. Alle Kabel und Batterien wurden gestohlen.« Er hat ein Solarpanel auf dem Dach montiert, das spendet am Abend bescheidenes Licht und reicht, um das Mobiltelefon wieder aufzuladen.
Erst in der Dämmerung erreicht der Wagen Sfireh, wo Heike Weber noch Umm Luay, die »Mutter von Luay« und ihre beiden Töchter Fatmeh und Hala besucht. In einer großen Tüte hat sie Arbeit für die Frauen mitgebracht. Blusen und Schals, die bestickt werden sollen und Garn in verschiedenen Farben. Umm Luay und ihre Familie stammen aus dem Dorf Um Meial, wo Abu Luay, der »Vater von Luay«, Schulleiter war. Beide Töchter haben studiert und arbeiten als Lehrerinnen. 2013 mussten sie vor dem IS fliehen und gerieten auf der Suche nach Sicherheit immer wieder zwischen die Fronten. Schließlich fanden sie in Sfireh ein Haus. Dessen Besitzer war mit seiner Familie in die Türkei geflohen und hatte Abu Luay den Schlüssel überlassen.
Auch hier sitzen die Besucher auf Kissen um den Ofen in einem kleinen, dunklen Raum. Umm Luay hat für die Gäste Kebbeh gemacht. Das eiförmige Gericht besteht aus Bulgur, Hackfleisch und Zwiebeln. Weil aber Fleisch sehr teuer geworden ist, wird es häufig durch Linsen ersetzt.
Sie sei gerade aus Rakka zurückgekehrt, erzählt Hala, die ältere Tochter von Umm Luay. Das Gebiet jenseits des Euphrat werde von den Kurden kontrolliert, sie hätten ihr einen Ausweis gegeben, damit sie die Stadt Rakka betreten konnte. 14 Tage hätte sie bleiben dürfen, erzählt sie. Zur Einreise habe sie die Garantie von jemandem benötigt, der in Rakka lebt und für sie bürgen kann. Sie habe einen kranken Onkel besucht, daher habe sie einreisen können. »Das Leben in Rakka ist gut, als wäre es Ausland, nicht Syrien«, erzählt Hala. »Sie haben dort Autos wie in den Golfstaaten, und immer gibt es Benzin und Öl.«
Beim Licht der Mobiltelefone bespricht Heike Weber mit Umm Luay und deren Töchtern die Arbeit. Sie erklärt Muster und Farben, zeigt Stiche und die Frauen begreifen schnell und mühelos, was sie zu tun haben. Weil es schon spät ist, bricht Heike Weber bald wieder auf. »Komm wieder und bleibe ein paar Tage bei uns«, rufen die Frauen, als Heike Weber wieder ins Auto steigt. »Und bring uns Arbeit mit.«
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