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Algerienkrieg bis heute nicht aufgearbeitet
Die Entschuldigung Frankreichs für Kolonialverbrechen steht auch 60 Jahre nach Ende des Algerienkriegs noch aus
Am Tisch saßen die französische Regierung und die provisorische Auslandsregierung der Befreiungsbewegung FLN: 60 Jahre ist es her, dass sich die beiden Konfliktparteien des Algerienkriegs Évian-les-Bains auf der französischen Seite des Genfer Sees trafen, um die Beilegung des blutigen Konflikts vertraglich festzuhalten. Damit wurde der Algerienkrieg beendet und Algeriens Weg in die Unabhängigkeit freigemacht. Am nächsten Tag um 12 Uhr trat der Waffenstillstand in Kraft.
Nur wenige Monate später, am 1. Juli 1962, sprachen sich bei der im Vertrag vorgesehenen Volksabstimmung in Algerien 99,72 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit aus, die unverzüglich wirksam wurde. Zwischen diesen beiden Daten und bis in den Herbst 1962 hinein flammte der Konflikt noch einmal mit blutigen Exzessen auf. Die rechtsextreme französische Terrororganisation OAS, die sich nicht mit dem Verlust des »französischen Algerien« abfinden wollte, legte Bomben. Damit hinterließen die Ultras verbrannte Erde. Auf algerischer Seite gab es Ausschreitungen sowohl gegen Franzosen als auch gegen Harkis, die einheimischen Hilfssoldaten der Kolonialarmee. Dabei kamen noch einmal mehrere Tausend Menschen ums Leben. Die FLN, die im Vertrag von Évian zugesichert hatte, für ein friedliches Zusammenleben von Algeriern und Franzosen zu sorgen und die Harkis zu begnadigen, griff nicht ein. Wie viele Menschenleben der Algerienkrieg zwischen 1954 und 1962 genau gekostet hat, weiß man nicht. Historiker schätzen, dass es 300 000 Algerier waren und 100 000 Franzosen, davon 30 000 Militärs.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die Erinnerung an den Algerienkrieg und seine Bewertung belasten noch heute die Beziehungen zwischen beiden Ländern. In Algerien dient die Kolonialvergangenheit, die bis 1830 zurückreicht, als Frankreich das schwächste Glied unter den nordafrikanischen Besitzungen des Osmanischen Reiches überfallen und für sich beansprucht hat, als bequeme Entschuldigung für alle Mängel und Missstände im Land. Der Erinnerungskult um die Helden der FLN wird nur zu oft instrumentalisiert, um Kritiker mundtot zu machen, die die Korruption, die Willkür und Bereicherung der Generäle und das Demokratiedefizit anprangern.
Emmanuel Macron ist der erste französische Präsident, der nach dem Algerienkrieg geboren ist. Dass er 2017 als Präsidentschaftskandidat bei einem Besuch in Algier den Kolonialismus als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bezeichnet hat, brachte ihm vor Ort viel Sympathie ein. Doch die heftigen Reaktionen, die er damit in Frankreich ausgelöst hat, machten deutlich, dass hier die alten Wunden bei vielen ehemaligen Algerienfranzosen und Harkis längst noch nicht vernarbt sind. Darüber hinaus sind auch heute noch viele Franzosen von der »zivilisatorischen« Leistung des Kolonialismus überzeugt. Im Parlament gab es vor einigen Jahren sogar den – in letzter Minute abgewendeten – Versuch, diese Behauptung in einem Gesetz festzuschreiben. Die Kolonialvergangenheit und der Algerienkrieg wurden und werden von den meisten Franzosen verdrängt und totgeschwiegen.
Dass eine kritische Aufarbeitung dieser dunklen Seiten bisher bestenfalls unter einigen Historikern, aber nicht in der breiten Öffentlichkeit stattfand, rächt sich heute. So konnten viele der »pied-noirs« (Schwarze Füße), der ehemaligen französischen Siedler in Algerien, die 1962 flüchteten und die in Frankreich kühl und hartherzig empfangen wurden, sehr schnell von Jean-Marie Le Pen und seiner rechtsradikalen Partei Front National angeworben werden. Sie bilden noch heute vor allem in Südfrankreich einen Großteil der Basis für die Rechtsextremen.
Auch die 40 000 der insgesamt 200 000 Harkis, die 1962 – gegen den ausdrücklichen Befehl der Regierung – von ihren Offizieren nach Frankreich evakuiert und damit vor der Rache der FLN gerettet wurden, haben allen Grund, mit ihrer neuen Heimat zu hadern. Sie mussten viele Jahre lang arbeitslos in Auffanglagern verbringen. Eine Integration gelang erst ihren Kindern und Enkeln. Auch sie und ihre Nachfahren wählen heute meist rechtsextrem oder zumindest rechts. Bei den Linken haben Klimawandel, Respekt für Randgruppen und andere aktuelle Themen Vorrang vor einer kritischen Aufarbeitung des Algerienkriegs. Unter solchen Bedingungen ist es wohl nach Macrons Überzeugung noch zu früh, seine 2017 angekündigte Absicht zu verwirklichen, sich als Präsident öffentlich und in aller Form für Frankreichs Kolonialvergangenheit zu entschuldigen.
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