Die Tragödie von Mariupol

Russland beschießt ein als ziviler Schutzraum gekennzeichnetes Theater. Die humanitäre Lage in der Stadt ist katastrophal

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 5 Min.

Männer und Frauen haben auf dem Boden ein notdürftiges Nachtlager aus Laken und Decken aufgeschlagen, ein uniformierter Mann erklärt in einem unbeleuchteten Raum die Essenausgabe, Säuglinge schreien, aufgeregte Kinderstimmen sind zu hören: Das etwa zweiminütige Video, das ukrainische Webseiten Anfang der Woche im Internet verbreiteten, soll aus dem Theater der hart umkämpften Stadt Mariupol am Asowschen Meer stammen.

Mehr als 1000 Zivilisten haben nach Angaben der Mariupoler Stadtverwaltung in dem Gebäude Schutz gesucht. Der Keller unter der Spielstätte soll der größte Bombenschutzraum der 440 000-Einwohner-Stadt in der Südostukraine sein. Sogar aus der Luft ist das Theater als zivile Fluchtstätte zu erkennen: Vor und hinter dem Gebäude ist mit großen weißen Buchstaben das Wort »Djeti« (Kinder) auf den Asphalt geschrieben, wie Aufnahmen des US-Satellitenfotodienstes Maxar vom Montag belegen.

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Die russische Armee schreckte der Warnhinweis allerdings nicht ab: Am Mittwochabend soll sie das Theater gezielt bombardiert haben. Ukrainischen Informationen zufolge soll dabei eine 1000-Kilogramm schwere Bombe zum Einsatz gekommen sein, andere Quellen sprechen von einem Raketeneinschlag. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Russlands Angriff zerstörte das Hauptgebäude des Theaters, Trümmerteile blockierten den Eingang zum Luftschutzkeller unter dem Bau. Auf Fotos aus Mariupol ist ein rauchender Trümmerhaufen zu sehen. Nachrichten über Überlebende gab es zunächst nicht. Die Stadt wurde weiter beschossen. Präsident Wolodymyr Selenskyj ging von Hunderten Opfern aus.

Das Außenministerium in Kiew bezeichnete den Angriff in einer Stellungnahme als »weiteres russisches Kriegsverbrechen«. Es sei just in dem Moment begangen worden, als der Internationale Gerichtshof in Den Haag Russland am Mittwoch zum Stopp des Krieges verpflichtete. »Putins Regime hat die Grenze der Menschlichkeit schon längst überschritten«, heißt es in der Erklärung.

Das russische Verteidigungsministerium stritt den Luftangriff ab. Das Theater sei angeblich von Kämpfern des rechtsextremen Asow-Batallions »vermint« und »gesprengt« worden, heißt es in einer Erklärung aus Moskau. Mit derselben Begründung hatte Russland in der vergangenen Woche den Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol geleugnet, bei der zahlreiche Menschen getötet wurden.

Am Donnerstagmittag verdichteten sich Nachrichten, denen zufolge der Schutzraum wider alle Befürchtungen nicht zerstört worden war. »Erwachsene und Kinder kommen lebendig heraus«, teilte die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmila Denissowa, mit. Bereits 130 Menschen sollen aus den Trümmern des Theaters befreit worden sein.

Der russische Angriff auf die zivile Schutzeinrichtung ist nur ein Beispiel für die zunehmend brutaler werdende russische Kriegsführung im Kampf um Mariupol.

Allein am Mittwoch habe man in der Stadt 22 Angriffe der russischen Luftwaffe gezählt, sagte Vizebürgermeister Sergej Orlow in einem Interview mit der ukrainischen Ausgabe der Zeitschrift »Forbes«. An diesem Tag seien 100 Bomben auf die Stadt abgeworfen worden. Fast 90 Prozent von Mariupol seien zerstört, schätzt Orlow. »Es gibt kein Haus ohne Beschädigungen.« Zudem werde die Stadt fast ununterbrochen von der russischen Artillerie beschossen. Auch Wohnviertel werden nicht verschont.

Die Folgen des Trommelfeuers: Seit Beginn der russischen Belagerung vor mehr als zwei Wochen wurden nach Behördenangaben mehr als 2400 Menschen von der russischen Armee getötet. Nicht eingerechnet sind dabei die unter Ruinen und Schuttbergen verschütteten Leichen.

Schätzungen zufolge könnte sich die Opferzahl daher noch verdoppeln. Zudem können nur 70 Prozent der Opfer identifiziert werden. Die Toten würden in Massengräbern im Stadtgarten im Mariupoler Zentrum beerdigt, erklärt Vizebürgermeister Orlow. »Die Russen lassen uns nicht auf die eigentlichen Friedhöfe.«

Anfang der Woche war ukrainischen Angaben zufolge Tausenden Menschen die Flucht aus Mariupol in Privatwagen gelungen. Für die bis zu 400 000 Einwohner, die weiter in der Stadt feststecken, verschlechtern sich die humanitären Bedingungen indes drastisch.

So ist die medizinische Versorgung infolge des russischen Bombardements fast vollständig zusammengebrochen: Nur noch ein verbliebenes von insgesamt 17 Krankenhäusern der Stadt kann noch Patienten aufnehmen.

Zudem bricht die Trinkwasserversorgung zusammen. Nur ein kleiner Teil der Menschen habe Zugang zu Brunnen, erklärt der Vizebürgermeister. Viele ließen Wasser aus den nicht mehr funktionierenden Heizungen. Andere schöpften Wasser aus Pfützen oder schmolzen Schnee, als es diesen noch gab. In der gesamten Stadt gebe es nur vier öffentliche Quellen. Das dort gewonnene Wasser werde im Stadtzentrum an speziellen Ausgabestellen verteilt. Der Bedarf der Großstadt könne auf diese Weise aber nicht gestillt werden.

Die Stadtverwaltung habe keine Möglichkeiten, den Bewohnern zu helfen, schildert Vizebürgermeister Orlow. Täglich gebe es Dutzende Fälle von Müttern, deren Kindern verhungern oder von Menschen, die in Schutzräumen verschüttet würden. Es müsse sofort ein humanitärer Korridor für Hilfslieferungen geöffnet werden, fordert Orlow.

Das von russischen Truppen Anfang März eingeschlossene Mariupol ist von strategischer und symbolischer Bedeutung für Moskau: Die Stadt im Südosten der Ukraine ist die letzte große Hafenstadt am Asowschen Meer, die sich noch unter ukrainischer Kontrolle befindet. Sie liegt etwa 55 Kilometer von der russischen Grenze und 85 Kilometer von der Separatistenhochburg Donezk entfernt. Seit 2014 ist sie immer wieder als Ziel pro-russischer Separatisten aus dem Donbass im Gespräch. Zu Beginn des Ukraine-Kriegs hatten diese die Hafenstadt sogar kurzfristig besetzt, bevor sie von der ukrainischen Armee wieder vertrieben wurden.

Nach dem Fall von Mariupol könnte Moskau ein seit langem anvisiertes Ziel umsetzen: die sogenannte Landbrücke zur Krim. Diese würde den Zusammenschluss der russischen Truppen mit Einheiten von der Krim und dem Separatistengebiet im Donbass ermöglichen.

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