Rendezvous mit Waterloo

Kraftstrotzende Weltmacht? Über Russlands Soft Power und die mangelnde Attraktivität des »Systems Putin«

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 8 Min.

Auch im Ukraine-Krieg berühren viele Entscheidungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin das Thema Attraktivität eines politischen Systems, die sogenannte Soft Power. Um diese »weiche Kraft« geht es hier. Soft Power bewertet die politische Anziehungskraft und kulturelle Ausstrahlung eines Landes und seiner Führung. Sie beleuchtet gleichsam den Sympathiefaktor eines Staates - in den Augen seiner Bevölkerung ebenso wie der Außenwelt.

Soft Power steht in Bezug zur Hard Power, der Militär- und Wirtschaftskraft. Ein Schlüsselmerkmal der Soft Power ist - im Unterschied zur Hard Power - die Machtausübung durch die Beeinflussung der Ziele politischer Akteure, ohne dass dafür wirtschaftlicher Druck oder militärische Drohungen genutzt werden. Ihre kürzeste Definition lautet: »the ability to attract« - die Fähigkeit zur Attraktivität. Das Konzept wurde von dem US-Politologen Joseph S. Nye (* 1937) entwickelt und 1990 in einem seiner Bücher formuliert. In der Politik, namentlich in den internationalen Beziehungen, meint Soft Power die Fähigkeit, den Interessen anderer Staaten auf attraktive Weise zu begegnen.

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Ein Staat mit großer Hard, aber geringer Soft Power kann mächtig, einflussreich und angsteinflößend, jedoch kaum anziehend sein. In letztere Lage hat Putin, der Repräsentant eines Staates, der als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats die Grundsätze der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität sowie das Gewaltverbot ganz besonders hochhalten müsste, mit seinem Eroberungskrieg das größte Land der Welt gebracht. Gewinnt er militärisch, wird der Sieg für ihn und Russland vergiftet sein. Gewinnt er nicht, bekommt er noch größere Probleme. So oder so hat er eine Art Rendezvous mit Waterloo.

Putins Attraktivität in Russland wird maßgeblich durch Intoleranz gegenüber Andersdenkenden beschränkt, bis hin zur Gewalt, sobald Betroffene eine gewisse öffentliche Sichtbarkeit anstreben und erst recht, wenn sie öffentlich zu wirken versuchen (Beispiel Alexej Nawalny). Diese einschnürende Streitmacht nach innen ist für die Bürger sogar noch deutlicher zu spüren als die Militärstreitmacht nach außen - und sie ist ein Grund, weshalb seit Kriegsbeginn nicht nur Millionen Ukrainer vor der russischen Hard Power fliehen, sondern eine wachsende Zahl vor allem junger Russen, angewidert von Putins Soft Power, gleichfalls ihre Heimat verlässt.

Das besondere Ausmaß der Hard Power hat das System Putin mit der führenden kapitalistischen Macht, den USA, und zunehmend auch mit der rasch aufstrebenden neuen Imperialmacht China gemein. Abgesehen davon ist das System Putin - anders als die USA und mehr noch als das heutige China - mit Ausnahme der Militär- und Weltraumtechnik von technologisch-ökologischen Schwächen bestimmt, vom Unvermögen, den Alltag der eigenen Bevölkerung mit innovativen und nachhaltigen Entwicklungen zu bereichern. Salopp gefragt: Wo etwa ist das russische Auto, auf das die Welt gewartet hat? Wo sind die praktischen wie originellen Neuheiten aus russischer Hand fürs Internet? Wo die Frauen in führenden Positionen? Wo die aufsehenerregenden Trends in Mode, Popmusik und Film, Sport und Freizeit, die in der Welt einen Aha-Effekt auslösen und Russland Sympathie eintragen?

Zum Ergebnis von Putins Amtszeit gehören die lahmende Wirtschaft, sinkende Realeinkommen, Millionen Menschen in Armut, grassierende Korruption und unverändert hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten. Letztere zeigt sich darin, dass sieben der zehn größten russischen Unternehmen zum Energiesektor zählen, der rund die Hälfte der Staatseinnahmen liefert. Ein Sektor erblühte unter Putin. Er zerstörte 1999 das tschetschenische Grosny, 2016 - mit Präsident Assad - das syrische Aleppo und lebt sich nun in der Ukraine aus: Russlands Hard Power.

Bereits mit der Einverleibung der Krim 2014 brach Russland Völkerrecht, als es gegen den Willen eines anderen Staates willkürlich und gewaltsam Grenzen änderte. Wer mit Grenzen spielt, spielt mit Feuer - und mit Krieg. Dies war einer der wichtigsten Grundsätze auch in der DDR, hinderte aber im Fall Russlands selbst manch deutschen Linken nicht daran, diesen Bruch durch Putin zu übersehen, kleinzureden oder, selbst heute noch, nach mehrwöchigem Krieg, ihn wie eine Naturkatastrophe zu beklagen, ohne den Verursacher zu nennen oder zu verurteilen.

Ein demokratiefreier sowjetischer Sozialismus wurde in Russland abgelöst von einem System korrupter Oligarchen, an deren politischer Spitze seit über zwei Dekaden Putin steht. Es regiert paternalistisch und selbstherrlich, pseudodemokratisch und mit Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Menschen nichtrussischer Herkunft, bei Bedarf mit nackter Gewalt. Momentan etwa zu besichtigen, wenn eine 77-Jährige weggeschleppt oder eine 80-Jährige - an ihrem Geburtstag - verhaftet wird, weil sie auf der Straße »Kein Krieg!« forderten.

Oder die neuen Mediengesetze: Diese Gleichschaltungsgesetze unterlaufen jede Soft Power, die allein aus faktenbasierter Berichterstattung entstehen kann. Und sie verbieten es, Krieg Krieg zu nennen. Ganz im Sinn der neuen Mediengesetze dagegen lag die geradezu irre Erklärung von Russlands Außenminister Lawrow nach dem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen in Antalya - und nach zwei Wochen offenem Krieg: »Wir haben die Ukraine nicht angegriffen.«

Im Dezember wurde die bekannteste Nichtregierungsorganisation Russlands, Memorial, verboten. Sie gab in 30 Jahren dreieinhalb Millionen Opfern politischer Unterdrückung in der Sowjetunion ihren Namen zurück. Das ist nur ein Bruchteil derer, die nach lächerlichen Vorwürfen in den Gulag gesteckt oder hingerichtet wurden. Auch die Liste mutmaßlich politischer Morde und Mordversuche an Kritikern wie Anna Politkowskaja und Boris Nemzow, Alexej Nawalny oder Sergej und Julia Skripal verstört, ebenso Russlands generalstabsmäßige Einmischung in Wahlen in den USA und anderswo. Zur Außenarbeit gehört die Unterstützung reaktionärer Parteien, nicht zuletzt der AfD. Deren Spitzen werden in Moskau stets auf dem roten Teppich empfangen.

»Stern«-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges schrieb schon 2017: »Die schwarzbraune Internationale Moskaus zeugt beim Anführer einer Nation, die im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verloren hat, von Geschichtslosigkeit. Von den 24 einflussreichsten Rechtsparteien der EU bekennen sich 15 offen zu Russland.« Der Kriegsgrund des Kreml, die Ukraine mit ihrem Präsidenten - der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie kommt und drei Angehörige im Holocaust verlor - müsse »entnazifiziert« werden, ist auch in diesem Kontext ein Beispiel einer diabolischen Soft Power.

Der russische Präsident bestreitet seit Langem die eigene Staatlichkeit der Ukraine. Nun aber begeht er mit offener Aggression ein Verbrechen. Joe Bidens Aussage vom Vorjahr, Putin sei »ein Killer«, erschien damals vielen stillos. Heute wirkt sie wie ein Beleg seiner Menschenkenntnis. Die USA und die Nato reagieren auf den Krieg bisher unblutig und bekräftigen: Wir antworten nicht militärisch, sondern verhängen Sanktionen. Putins Russland hat es geschafft, dass viele Menschen die Nato derzeit als verantwortungsvolle Kraft wahrnehmen. Oder wie Gregor Gysi im neuesten Binnenstreit der Linken schrieb: Auch er kritisiere die Nato, in dem Fall aber habe sie »keinen einzigen Fehler begangen«, der den Krieg rechtfertige.

Viele haben vergessen: Auch Russland wollte vor 30 Jahren, Ende 1991, seine Unabhängigkeit von der bankrotten Sowjetunion, ebenso wie jetzt manche Staaten von Moskau. Russland will solche Bestrebungen unterbinden, in Belarus und Georgien, in Kasachstan und Moldau. Viel Geld fließt in die Rüstung, statt damit die Wirtschaft zu modernisieren. Das damit verbundene Drama beschrieb die »Neue Zürcher Zeitung« bereits nach der Krim-Annexion: »Russland ist eine Kulturnation, eine Nation der Geschichte, der Tradition, der Bildung. Ein Land mit Potenzialen also, wie es weltweit in dieser Form und mit diesem inneren Reichtum nur ganz wenige gibt. Dieses Potenzial liegt brach, weil es der russischen Führung seit Jahren am Willen und an der Fähigkeit mangelt, Rechtsstaatlichkeit als Grundsatz politischen und wirtschaftlichen Handelns nach innen wie nach außen nicht nur zu propagieren, sondern auch durchzusetzen.« Unter Putin habe das Land »keinen wirklichen Modernisierungsschritt getan, ganz im Gegenteil: Die eigene Wirtschaft ist global kaum wettbewerbsfähig, sie beruht auf weitgehend veralteter Technologie, setzt unbeirrt auf Schwerindustrie und Ressourcenausbeutung und auf einen industriell-militärischen Komplex, der als Schmieröl für ineffiziente und korrupte Strukturen dient. Der Prunk Moskaus und der Glanz St. Petersburgs täuschen darüber hinweg, dass die zwei Metropolen nur Perlen in einem Mosaik aus vielen groben Kieselsteinen sind.«

Wladimir Sorokin, einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Gegenwart und Beleg dafür, dass Künstler heute weiter die Soft Power ihres Landes mehren, erklärte zu Kriegsbeginn in Richtung Putin: »Er hat ein freies, demokratisches Land überfallen, weil es frei und demokratisch ist. Er ist geliefert.« So zuversichtlich diese Worte auch sind, so langsam werden sie ihre Wirkung in Russland entfalten können, denn: Wolodymyr Selenskyj hat in diesem Krieg zwar sogleich die Macht der Sympathie, die Soft Power, gewonnen. Doch Putin besitzt militärische Übermacht. Überlegen Sie, wer da am längeren Hebel sitzt, zumal die Nato ihre Verantwortung für die Verhinderung eines Weltkriegs betont und bislang wahrnimmt. Ob Selenskyj überlebt, wenigstens physisch, ist angesichts Moskaus Mordmaschine ebenso offen wie das Überleben einer freien Ukraine. Die Soft Power ist so wichtig wie lange nicht. Und genauso bedroht.

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