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Politik mit anderen Mitteln
Im Ukraine-Krieg geht es um Herrschaftsansprüche – die auch EU und Nato seit Jahren dort durchsetzen wollen
Seit über drei Wochen führt Russland Krieg gegen die Ukraine. In einer Einigkeit und Schärfe, wie es sie lange nicht mehr gab, verurteilen Politik und Öffentlichkeit Wladimir Putin als Aggressor. Deutschland vollführt eine Wende seiner Außenpolitik, liefert Waffen in einen laufenden Krieg, plant das drittgrößte Militärbudget der Welt und macht mit bei einem Wirtschaftskrieg, der das erklärte Ziel verfolgt, Russland ökonomisch zu isolieren und in den Staatsbankrott zu treiben.
Während der Angriffsbefehl selbstverständlich vom russischen Präsidenten kam, erfährt man über die Vorgeschichte und Ursachen des Krieges wenig. Seit der Westen sich in seiner Gegnerschaft zu Russland einig ist, beschränken sich die Erklärungen für die Gründe des Krieges oft auf die Verkommenheit einer einzigen Person: Putin leide am »Napoleon-Komplex« oder gar an einem Hirntumor und wolle wahlweise die UdSSR oder das Zarenreich aus einem menschenfeindlichen Größenwahn wieder auferstehen lassen. Psycholog*innen werden als Expert*innen herangezogen, und in der FAZ konnte man lesen, das deutsche Auenland müsse lernen, »dass es auch in der realen Welt ein dunkles Reich Mordor und einen Sauron gibt, der alle knechten will«.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.
Leben in der Staatenwelt
Aber all das hat mit der Realität und den Gründen des Krieges letztlich nichts zu tun. In Wirklichkeit treffen in der Ukraine Staatsgewalten mit gegensätzlichen Interessen aufeinander, deren Konflikte die dort lebenden Menschen gerade mit ihren Leben bezahlen. Und diese gegensätzlichen Interesse manifestieren sich im konkreten Fall an der Frage, in welches weltpolitische Lager die Ukraine denn nun gehört - ohne dass öffentlich diskutiert würde, was es für einen Staat und seine Bevölkerung eigentlich bedeutet, ins Lager des einen oder anderen Akteurs zu gehören. Die Ukraine ereilte im Laufe der 90er Jahre das Schicksal, sich geografisch zwischen Russland und der ökonomischen Weltmacht EU sowie der Nato als größtem Militärbündnis der Weltgeschichte wiederzufinden.
Die neue kapitalistische Wirtschaft der Ukraine entwickelte sich zunächst nur sehr schleppend; spätestens 2013 stand das Land als Spätfolge der internationalen Finanzkrise vor dem Staatsbankrott. Daraus entstand ein unabweisbares Bedürfnis nach dem, was die Ukraine mit ihrer kapitalistischen Wendung eigentlich selbst hatte erwirtschaften wollen: Devisen, im konkreten Fall Kredite. Als Geberländer kamen nun sowohl Russland als auch die EU in Frage: Mit Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion war die Ukraine bereits durch ein Freihandelsabkommen verbunden, die EU lockte mit der Perspektive, langfristig Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu gewähren. Der Streit, auf welche Seite sich die bedürftige Ukraine zukünftig einlassen solle, führte bereits seit 2013 zu politischen Auseinandersetzungen - mit militärischer Einmischung Russlands auf der Krim und im Donbass, als die Ukraine das Angebot zur EU-Orientierung annahm.
Das Gesetz des Stärkeren
Die Vergabe von Kredit oder eine »Einbindung« eines Staates in einen Binnenmarkt wird von den kapitalistisch erfolgreichen Nationen der Welt verhandelt. Dies geschieht auf der Basis entsprechend besserer Verhandlungspositionen, aber nicht völlig getrennt von der jeweiligen politischen Zuordnung der betroffenen Staaten zu einem Machtblock. Je schlechter die Ausgangslage eines Verhandlungspartners, umso höher ist der Preis an politischer Anpassung und Unterordnung, den die stärkere Partei fordert. Für die Ukraine bedeutete das konkret: Das europäische Angebot versprach zwar den dringend benötigten Kredit, verlangte im Gegenzug aber die Angleichung ukrainischer Standards und Gesetze an die europäischen.
Dies setzt die Ukraine faktisch der Konkurrenz der gesammelten Kapitalmacht der EU aus, ohne dass sie bei den Regeln der Konkurrenz mitreden kann - und mit der Konsequenz, dass die ukrainischen Wirtschaft »Richtung Osten« inkompatibel wird. Zusätzlich stellte die EU der Ukraine die Einbindung in das Geflecht der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Aussicht sowie die Nato-Mitgliedschaft - wenn auch zunächst noch in weiter Ferne. Kurz gesagt: Die Ukraine hatte sich im Austausch für Kredit und Handelserleichterungen wirtschaftlich und militärisch für »den Westen« brauchbar zu machen, bis hin zur - gegenwärtig bereits begonnenen - Umrüstung ihrer Streitkräfte auf Nato-Standards.
Die Hinwendung der Ukraine zum Westen führte also unausweichlich und ganz praktisch zur wirtschaftlichen und militärisch-strategischen Abwendung von Russland. Dies war nun aber kein bedauerlicher Nebeneffekt, sondern genauso gewollt: Der westlichen Diplomatie kam es eben auf die Schwächung der Position Russlands an, das als Nachfolgestaat der Sowjetunion über ein immer noch (zu) ansehnliches Militärarsenal verfügt und durch seine Einnahmen aus Gas- und Ölgeschäften in der Lage ist, als Kreditgeber auch in der Weltwährung Dollar nach außen in Erscheinung zu treten. Deswegen erstrecken sich die Anforderungen des Westens an die Ukraine auch auf die Bereiche, aus denen Staaten ihre Machtfülle ziehen, nämlich Wirtschaft und Militär. Insofern wurde der Ukraine also eine eigene Entwicklung in Aussicht gestellt - aber lediglich eine, die zugleich einen Beitrag zur Ausweitung westlicher Dominanz leistet.
Russland war der Beginn dieser Entwicklung bereits 2014 Grund für ein gewaltsames Eingreifen. Seit einiger Zeit signalisiert die russische Regierung, dass es mit der faktisch voranschreitenden westlichen Einbindung der Ukraine inklusive der (explizit nicht ausgeschlossenen) Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft »rote Linien« überschritten sieht. Konkret beansprucht Russland, in seinem nahen geopolitischen Umfeld selbst darüber zu entscheiden, ob hier ein anderer Staat zum potenziellen Aufmarschgebiet fremder Militärmacht werden kann - inklusive der damit einhergehenden Bedrohungslage wie etwa durch Raketen, die von ukrainischem Boden nur ein paar Minuten nach Moskau brauchen würden. Diese Interessen hat der russische Staat jetzt gewissermaßen als Preis formuliert, den die Ukraine für Frieden zu zahlen hat: Er besteht in einem propagandistisch als »Entnazifizierung« dargestellten Regierungswechsel im Sinne Russlands sowie einer in der Verfassung festgeschriebenen Neutralität und Demilitarisierung der Ukraine. Und diese Interessen betrachtet die russische Führung offenbar als existenziell genug, um dafür einen Krieg zu führen.
Verteidigung als Expansion?
Zur Begründung verweist Russland auf die historischen Erfahrungen mit der Nato, immerhin der Zusammenschluss nahezu aller wirtschaftlich erfolgreichsten westlichen Staaten unter Führung der ökonomisch und militärisch mächtigsten Nation der Welt, den USA. Dieses »Verteidigungsbündnis« hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges immer weiter nach Osten ausgedehnt, bis an die russische Grenze heran. Es ist eine Allianz, die in den letzten 30 Jahren durch ihre globalen Interventionen klargestellt hat, dass sie Staatsführungen, die sich gegen ihre Interessen verhalten, nötigenfalls auch mit militärischer Gewalt beseitigt. Und auch wenn der Westen stets betont, mit seinen Waffenarsenalen nur seine Verteidigungsfähigkeit zu fördern, ist es kein Geheimnis, dass es letztlich darum geht, jederzeit fähig zu einem siegreichen Krieg gegen jeden denkbaren Gegner zu sein.
Vor diesem Hintergrund betrachtet die russische Regierung die Osterweiterung der Nato und die Einbindung der Ukraine schlicht als weiteren Baustein in der militärischen Überlegenheit der Nato in einem potenziellen Krieg gegen Russland. Und damit hat Russland tatsächlich auch recht.
In der bisher geltenden »Friedensordnung« war vorerst geklärt, wer das Gewaltmonopol für fast die ganze Welt beanspruchen kann - und wer entscheidet, wann zur Sicherstellung dieses Friedens ein Krieg zu führen ist: die USA. Diese Friedensordnung ist darauf angelegt, dass die wirtschaftlich erfolgreichen Mächte dies auch bleiben; sie wollen per ökonomischem Erfolg weiterhin in der Lage sein, mittels Sanktionen und Ausschluss von Weltmarkt und Weltgeld andere Staaten zu schädigen - und auf diese Weise auch ohne den sofortigen Einsatz militärischer Gewalt ihre Interessen durchzusetzen. Und es ist eben diese Friedensordnung, die deutsche und andere Politiker nun erschüttert sehen. Plötzlich führt sich eine ihnen unangenehme Macht, nämlich Russland, als Ordnungsmacht auf und versucht gar, die eigenen Interessen mittels eines kriegerischen »Regime Change« umzusetzen. Und das auch noch in der Ukraine, die man schon längst in die eigene, »westliche« Interessensphäre einsortiert hatte!
Friedens(un)ordnungen
Währenddessen ist der von Putin als solcher benannte und nun auch praktisch geführte »Existenzkampf« natürlich etwas anderes als die einfache Sicherung des eigenen Überlebens - und dem Wohl der russischen Bürger*innen dient dies schon gar nicht. Vielmehr artikuliert sich hier der nun als Krieg umgesetzte Anspruch, der westlich dominierten Welt weiterhin zumindest potenziell etwas entgegensetzen zu können.
Es gab bereits andere russische Versuche zum Erhalt weltpolitischer Bedeutung: Mit der 2015 geschlossenen Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) hatte Russland seinen Nachbarstaaten ein Gegenangebot zur Wirtschaftsordnung des Westens gemacht, das auf die russischen Interessen zugeschnitten ist. Begleitend wurden Militärabkommen mit einigen Mitgliedern der EAWU geschlossen, was diese Staaten faktisch zur russischen Einflusssphäre macht. Zusätzlich verteilt Russland Pässe an russischsprachige Bewohner*innen in angrenzenden Staaten, um bei Bedarf deren Interessen als Vorwand für Einmischungen und Interventionen anzuführen; so etwa seit 2014 auf der Krim.
Zuletzt behauptete Putin noch angebliche atomare Bestrebungen der Ukraine und einen vermeintlichen Genozid an russischen Bürgern im Donbass - erlogene Rechtfertigungen des Krieges, die allerdings den westlichen Begründungen vergangener Interventionen gleichen, etwa der USA im Irakkrieg 2003. Misst man sie an ihrem Erfolg, können die russischen Bemühungen um weltpolitische Bedeutung mit denen des Westens kaum mithalten; der Sache nach benutzen aber alle Beteiligten letztlich dieselben Mittel.
Fest steht jedenfalls: Russland zieht mit seinem Versuch einer alternativen Weltpolitik schon länger das besondere Augenmerk des Westens auf sich - und nun, nach Kriegsbeginn, die offene Feindschaft. Auch wenn das Wort Imperialismus fast aus der Zeit gefallen scheint, entstehen doch die Gegensätze, die in der Ukraine ausgefochten werden, durchweg aus imperialen Ansprüchen: der Aushandlung der grundsätzlichen »Geschäftsbedingungen« zwischen kapitalistischen Staaten und deren militärische Absicherung. Dafür sind letztlich alle Seiten bereit, Krieg zu führen.
Dass auch die deutsche Regierung davor nicht zurückschreckt, hat sie gerade eindrucksvoll durch die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sonderausgaben für die Bundeswehr bewiesen. Mit diesem astronomischen Betrag fördert Deutschland zugleich seine Führungsrolle innerhalb von Nato und EU - denn auch unter Verbündeten gibt es eine Rangordnung. Die von Deutschland und anderen Staaten an die Ukraine gelieferten Waffen dienen keineswegs dem Frieden, sondern sollen Blutzoll und ökonomischen Preis für Russland in die Höhe treiben. In dem Sinne erfüllt die Ukraine in diesem Krieg aufopferungsvoll eine Rolle als Stellvertreterin des Westens, auch wenn es für sie zugleich ein Kampf um Selbstbehauptung ist. Es sind die Bewohner*innen der Ukraine, die nun das Leid erfahren, was daraus folgt, dass Herrschende eine kapitalistische »Friedensordnung« durchsetzen wollen.
Jan Benski beschäftigt sich mit internationaler Politik und war früher aktiv bei den »Gruppen gegen Kapital und Nation« (www.gegner.in).
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