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Habt keine Angst
Der März-Verlag war nie ganz weg, aber jetzt ist er wieder richtig da
Der März-Verlag ist wieder da. Selbstverständlich feiert er seine Wiederauferstehung im Monat März. Mit sechs neuen Büchern unter dem fröhlich-selbstreferenziellen Motto »Alles Gute März«. Er wurde ja auch im März 1969 in Darmstadt gegründet, von Jörg Schröder, einem der legendärsten Typen der linken BRD-Verlagsgeschichte. 1987 wurde der März-Verlag dichtgemacht, von Schröders späterer Ehefrau Barbara Kalender, die ihn nun zusammen mit Richard Stoiber in Berlin wieder auf den Markt gebracht hat.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die ersten März-Neuerscheinungen seit 35 Jahren sind: Ein Skandalroman von Kathy Acker, eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte des Döners von Eberhard Seidel und das Romandebüt der norwegischen Popsängerin Jenny Hval. Dazu kommen drei frisch aufgelegte Klassiker aus dem alten Verlagsprogramm: Valerie Solanas’ berühmtes »Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer«, »Das Kind« von Jules Vallès, einem sozialistischen Schriftsteller der Pariser Kommune (in Frankreich Schullektüre), und gesammelte Aufsätze von Frantz Fanon »Für eine afrikanische Revolution«, die zu den Urtexten des antirassistischen Denkens gehören.
Dass man unbedingt wissen will, was März jetzt rausbringt und weiterhin vorhat, liegt an der unzerstörbaren Coolness dieses Verlags, die nicht mit seiner Liquidation in den 80er Jahren erloschen ist, sondern von Jörg Schröder und Barbara Kalender immerzu weitergetrieben wurde. Die never ending März-Story gründet auf drei Faktoren.
Von den Pionierleistungen
Da ist zunächst der Verlag selbst, mit seinen Pionierleistungen im hiesigen Verlagsgeschäft. Eine kleine Auswahl aus seinen 174 Büchern: »Acid«, der Sammelband mit den neuen US-Autoren wie Charles Bukowski und William S. Burroughs, 1969 herausgegeben von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla. »Sexfront« von Günter Amendt, das berühmte linksradikale Aufklärungsbuch von 1970, bei dem man nicht nur verstand, worum es ging, sondern sich das auch anschauen konnte. »Propaganda als Waffe« von Willi Münzenberg, die wieder aufgelegte Untersuchung des PR-Genies der KPD von 1937 über die Unterschiede zwischen faschistischer und kommunistischer Propaganda. Leonard Cohens zweiter Roman »Schöne Verlierer«, Robert Crumbs »Headcomix«, Doktor Gormanders antiautoritäres Kinderbuch »Als die Kinder die Macht ergriffen«, Ken Keseys »Einer flog über das Kuckucksnest« und »Die Reise« aus dem Nachlass von Bernward Vesper, dem Exmann von Gudrun Ensslin.
Für immer gelb
Der zweite Coolness-Faktor ist das gelb-rot-schwarze Design, in dem die meisten der März-Bücher erschienen, das man sich - einmal gesehen - für immer merken konnte: Gelber Einband mit dem Verlagsnamen in roten Versalien und Titel/Autor in schwarzer Schrift. Das war noch prägnanter als die Suhrkamp-Bücher und wurde entworfen von Schröder, dem grafischen Autodidakten. Die Idee für den März-Look kam ihm beim dritten Buch des Verlages: »Roter Stern über China« von Edgar Snow. Darin hatte der US-Journalist die Gespräche verarbeitet, die er Mitte der 30er Jahre mit Mao Zedong geführt hatte, als die chinesischen Kommunisten noch im Untergrund waren. Liest man das heute, ist es ein bisschen langweilig und unverständlich. 1969 aber war es für die vielen neuen Maoisten der BRD der Hammer.
Querfinanziert wurde das ambitionierte März-Programm mit Pornografie, mit übersetzten Büchern aus dem New Yorker Verlag Olympia Press, die auch der Auslöser der Gründung von März gewesen waren. Solche Bücher trotz des Pornografieverbots zu veröffentlichen, war publicityträchtig (es gab Gerichtsprozesse und viel Presse) und lukrativ. Schröder hatte sich darüber mit dem Melzer-Verlag überworfen, den er vorher als Verlags- und Werbe- und Programmchef in einer Person in die aufregende Zeit von 1968 gebeamt hatte.
Schröder wollte mehr Geld und wurde stattdessen gekündigt. Daraufhin gründete er den März-Verlag, mit den Angestellten und Autor*innen von Melzer, die auf seiner Seite waren. Sie zogen am 19. März 1969 in den Keller des Melzer-Verlags um und fingen einfach an. Das nannten sie »kollektive Selbsthilfe«. Der Verlagsname war eine geschickte Verlegenheitslösung; das, was am Ende von verschiedenen Namensvorschlägen übrig blieb. Der Name verschränkte Avantgarde, Revolution und Kunst, denn man dachte dabei auch an die »Merz«-Arbeiten des Dadaisten Kurt Schwitters.
Die Legendenbildung vorantreiben
Zu Jörg Schröder, seiner Person und seinen Ideen, seinen Initiativen und Versuchen gibt es massenweise Abenteuergeschichten, Anekdoten und Dönekes zwischen Konzeptkunst, politischer Initiative und Werbetrick. Vorzugsweise hat er sie alle selbst erzählt - der dritte Coolness-Faktor des März-Verlags. Vielleicht der genialste Schachzug des Jörg Schröder, der damit seine Legendarität konstant befeuerte. Seine Storys aus dem wahnhaften Kulturbetrieb wirkten zunächst so, als würde er sie in geradezu hemingwayscher Reduktionsmanier vortragen, doch sie waren ausufernd, voller Fußnoten und Aha-Momente und sehr unterhaltsam.
Wie er mit einem eher schrottreifen Jaguar als Verlagsauto strahlenden Eindruck machte, wie er Lenins 100. Geburtstag mit einer gefälschten Briefmarke feierte, mit der er Post an Bundestagsmitglieder verschickte oder wie er mit »Bismarc Media« eine Agentur für Intellektuelle gründete, deren Aufgabe es war, nichts zu produzieren. Diedrich Diederichsen hat Schröders Wirken als »erweitertes Verlegertum« auf den Begriff gebracht. Schröder selbst hat für sich gerne den alten Spruch von Walter Benjamin reklamiert: »immer radikal, niemals konsequent«. Das ist auch der Titel einer Verlagsgeschichte, die er mit Barbara Kalender und Jan-Frederik Bandel 2011 vorlegte. Wie aber wurde er zum großen Erzähler?
Nichts auslassen
Das ist auch schon wieder so eine Legende. Anfang der 70er Jahre lag Schröder krank im Bett und sprach dem Schriftsteller Ernst Herhaus in drei Wochen sein autobiografisches Buch »Siegfried«, was der Name seines Stiefvaters ist, auf Tonband. »Schröder erzählt, wer wann und wo was mit wem gekungelt hat, und wie die Chose läuft. Und lässt nichts aus dabei, vor allem keine Namen«, wie Wiglaf Droste noch 20 Jahre später voller Bewunderung schrieb. Gegen das Buch hatten zwölf Einzelpersonen geklagt, weil es ihnen nicht gefiel, wie sie darin vorkamen. Deshalb gibt es mehrere Ausgaben von »Siegfried«: geschwärzt, gekürzt, aber immer wieder neu aufgelegt, auch bei anderen Verlagen, zuletzt 2018 bei Schöffling. Christian Schultz-Gerstein, als Kritiker der Vorläufer von Polemikern wie Droste, Biller, Goldt und guter Bekannter von Schröder, hat diesen Erzählansatz so bezeichnet: »Schröders Klatsch ist, was Klatsch sonst nicht ist: Aufklärung, eine Waffe.«
Das sagt er in dem auch heute noch sehenswerten Semi-Dokumentarfilm »Die März Akte« von Peter Gehrig aus dem Jahr 1985, in dem Jörg Schröder und Barbara Kalender sich nach eigenem Drehbuch selbst spielen und den März-Verlag, damals in einem alten Bauernhaus im Vogelsberg ansässig, gleich mit. Sie bekommen Besuch von einem Betriebsprüfer, der vergeblich versucht, sich die sagenumwobenen Bilanzen des Verlags zu erschließen. Den Prüfer spielt der Dichter Horst Tomayer ebenso bierernst wie zuckersüß, etwa wenn er Schröder, der mit Fieber im Bett liegt, etwas Selbstgeschriebenes vorträgt. »So ein schönes Betriebsprüfergedicht habe ich noch nie gehört«, ruft der aus.
In der Windmühle
Im Film wirkt Schröder ein bisschen sehr streng und Kalender etwas zu still. Kennengelernt haben sich die beiden 1980 in der »Windmühle«, einer Kneipe in Fulda. Da saß Kalender öfter mit Wolfgang Vogel, dem Korrektor der Fuldaer Verlagsanstalt, und redete über Bücher, nach ihrer Arbeit als Assistentin des Direktors der Fuldaer Milchwerke. Eines Tages saß auch Schröder mit am Tisch, für dessen Verlag Vogel nebenher Korrektur las, um sein Gehalt aufzubessern; Schröder war damals Anfang 40, Kalender Anfang 20. Sie unterhielten sich aber nur kurz. Später schickte ihr Schröder, der sich ihre Adresse von Vogel besorgt hatte, »Siegfried« mit einem schönen Brief. Kalender las das Buch in ihrem Urlaub und war beeindruckt. Und in ihren nächsten Urlaub, in die Provence, fuhr sie dann schon mit Schröder selbst.
Was die beiden mit dem Verlag in den 80er Jahren erlebten, wie sie ihn immer wieder mit tollkühnen Aktionen ins Gespräch brachten, das erfährt man in »Die März Akte« in geraffter Form. Und auch, was danach passierte. Denn als Bonus der DVD, die Absolut-Medien noch im Programm hat, gibt es ein ausführliches Gespräch der beiden mit dem früheren »Taz«-Redakteur Mathias Bröckers über den »Nach März« (1986-2007).
Denn im Frühjahr 1987 war für den März-Verlag erst mal Feierabend. Nach zwei Herzinfarkten sagten die Ärzte Schröder, wenn er unbedingt demnächst sterben wolle, dann solle er nur so weitermachen mit seinem nervösen Lebensstil. Schröder aber wollte noch ein bisschen weiterleben und gab von heute auf morgen seine Süchte auf, wozu auch der Verlag zählte. Der wurde von Kalender liquidiert, während Schröder im Krankenhaus lag. Das Bauernhaus ging komplett an die Bank, um die Schulden abzutragen. Für ein Jahr bekamen Schröder und Kalender Arbeitslosengeld.
Dann mach es doch selbst
Klar, sie mussten von irgendetwas leben, aber trotzdem: Es war wiederum ein bestechender Einfall, den Jörg Schröder weiterreden und daraus die Langzeitserie »Schröder erzählt« entstehen zu lassen, die man wie eine Art Privatbrief abonnieren konnte. Kalender interviewte Schröder und umgekehrt: Geschichten aus dem Kulturbetrieb, auf erhellend witzige Weise aufs Alltägliche runtergebrochen, erfasst aus teilnehmender Beobachtung, sozusagen aus der Position dagegen/dabei. Und produziert und gestaltet am heimischen PC: eine besondere Form der Selbstermächtigung, das alte Ziel von 1968. Und auch das Produktionsprinzip der neuen Technobewegung von 1990: Mach die Musik selbst, zu Hause am Computer.
Heimischer Computer hieß bei Schröder und Kalender professionelles Arbeiten. Sie hatten sich einen Macintosh SE von Apple gekauft plus Peripherie und Tintenstrahl-Drucker. Das kostete 15 000 DM und war trotzdem billig, weil man die Bestände ihrer »Desktop-Reihe«, wie sie diese nannten, nicht mehr per Gerichtsurteil beschlagnahmen konnte. Bezahlt wurde per Vorkasse, es gab kein Lager - was raus war, war weg. Schröder und Kalender erzählten immer weiter und lernten neue Leute für weitere Geschichten kennen: aus den Medien, der Popmusik, der Kunst und der Literatur, auf ihren Reisen, bei Lesungen, Jobs und in ihrem literarischen Salon, den sie einmal im Monat in ihrer großen Wohnung in Berlin-Schöneberg organisierten, wo sie seit 2005 lebten.
Bis zu Schröders Tod 2020 erschienen 68 Folgen und sechs »Treuegaben«: 3800 Seiten Gesamtwerk. Dazu kamen noch tagebuchartige Texte in ihrem Blog für die »Taz« (über 1300 Beiträge) und eine Kolumne in der »Jungen Welt« (die mit der 100. Folge endete).
So wurde die Geschichte des März-Verlags in verschiedenen Kontexten ständig fortgeschrieben. Er war in Form von Installationen zu betrachten, an denen sich Schröder und Kalender beteiligten, in Katalogen und Ausstellungen. Die Bücher gab es teilweise auch wieder: 2004 veröffentlichte der Area-Verlag eine »März-Kassette« mit 12 Büchern von früher in Dünndruckpapier.
Anders als die Beatles
Betrachtet man diese unablässigen Aktivitäten, dann wundert man sich gar nicht so sehr, dass der März-Verlag wieder da ist. Denn richtig verschwunden war er ja nie. Das machen sie anders als die Beatles: Ohne die Kombination Lennon/McCartney konnte es diese Band nicht mehr geben - ohne Schröder konnte Kalender nicht mehr »Schröder erzählt« machen, den Verlag aber schon.
Nach Schröders Tod klopfte sie bei verschiedenen anderen Häusern an, um zu fragen, ob denn Interesse bestünde. »Na ja, danke, eigentlich sehr gerne, aber wir haben jetzt schon einen anderen Verlag gekauft, ähem«, bekam sie da zu hören. Oder: »Suchen Sie mal jemand anderen, und in ein paar Jahren, kaufen wir Sie dann auf, wenn’s dann noch geht, haha.«
Nur bei Matthes & Seitz lief es nicht so. Da ging Barbara Kalender zum Verleger Andreas Rötzer, und sie unterhielten sich ganz gut; und danach ging der Lektor Richard Stoiber zu Rötzer und fragte ihn, ob Kalender ihm eben etwa den März-Verlag angeboten habe. »Das musst du machen!«, sagte Rötzer zu ihm, denn er wusste, dass Stoiber den Verlag liebte. Er war 30 Jahre jünger als Kalender. Was würde sie dazu sagen?
Der Mops entscheidet
Stoiber wartete eine Anstandsstunde und rief sie gleich mal an. Und hier ein interessantes Detail, das fast einer Folge von »Schröder erzählt« entnommen sein könnte, stattdessen haben es mir die beiden erzählt: Entscheidend war beim ersten Treffen nicht die Sympathie - die gab es, die berühmte gleiche Wellenlänge -, entscheidend war ein schwarzer Mops. Den hatte Kalender immer mal wieder bei sich zu Hause. Eigentlich gehörte er einer Freundin. Als Stoiber kam, saßen sie zu dritt auf dem Sofa, der Mops in der Mitte. Und der Hund schmiegte sich nicht wie sonst bei Kalender an, sondern bei Stoiber, obwohl der gar kein Hundefreund ist. »Hunde haben ja ein gutes Gespür, ob jemand ein guter Typ ist«, sagt Kalender.
Wie viele gute Typen wollte Stoiber früher einmal Lyriker werden, in Köln, mit jugendlichen Skandalgedichten, die ihn aber weniger überzeugten, je älter er wurde. Es war für ihn dann doch spannender, sich mit anderen Texten als seinen eigenen zu beschäftigen. Er machte eine Ausbildung bei Suhrkamp. Früher hieß das Verlagskaufmann, bei ihm allerdings schon Medienkaufmann Digital und Print. Auch weil sich das nicht so toll anhört, studierte er in Berlin Deutsche Literatur, Gender Studies und Skandinavistik, jobbte nebenher bei Matthes & Seitz, als der Verlag von Jahr zu Jahr bemerkenswerter wurde, und stieg dort schließlich als Lektor ein.
Jetzt ist er bei März. Und März ist zurück im Spiel. Die Frage ist jedoch: Wie cool ist das denn? Denn die Aufmerksamkeitsökonomie ist heute eine ganz andere als vor über 50 Jahren, als alles begann. Die alte, damals unschlagbare Kombination aus Politik, Pop und Sexualität wird heute dauerdiskutiert in tendenziell unübersichtlichen Mikrodiskursen und in verschiedenen Medienformen. Diese Komplexität müsste man brechen, unterlaufen, verschieben, um wahrgenommen zu werden. Eine der Pointen der Kulturgeschichte des Döners von Eberhard Seidel besteht darin, dass man zwar nicht weiß, wann und wo genau er in Westberlin erfunden wurde (es muss Anfang der 70er Jahre gewesen sein), dass es aber mittlerweile einen »German Döner« (mit »ö«) in den Imbissen auf der gesamten Welt zu kaufen gibt.
Freundlicher Surrealismus
Und in dem Roman »Perlenbrauerei« von Jenny Hval wird eine Bewegung vorgeführt, die in der aktuellen Literatur gerne behauptet, aber selten unternommen wird, und wenn, dann meistens nur mit Befremden und Paranoia: von außen nach innen und wieder zurück. Das geschieht in diesem freundlichen surrealistischen Roman ohne Groll und Angst.
Die Musikerin Hval, die aus dem Gothic Metal kommt und heute ins Elegische tendierende Popmusik spielt, erzählt in ihrem Romandebüt, das 2009 in Norwegen veröffentlicht wurde und nun erstmals auf Deutsch vorliegt, von einer norwegischen Austauschstudentin, die in einer fiktiven englischen oder australischen Universitätsstadt in eine alte Brauerei zieht, in der schon eine ältere Sekretärin lebt. Die Räume sind nur durch Spanplatten getrennt, die aber nicht bis zur Decke reichen, sodass man immerzu alles hört, was in dem Gemäuer vor sich geht.
Das ist weniger gruselig als anregend, es kommt zu neuartigen Erfahrungen und Austauschbeziehungen: »Während draußen der Winter begann, wurden wir drinnen in der Brauerei vom Sommer überfallen, als ob die Wände nicht nur die Innenwelt von der Außenwelt, sondern auch zwei Ökosysteme trennten. An den Fußleisten wuchs Gras aus dem Boden.« Ein schönes, elegantes Buch. Leute, habt keine Angst mehr vor dem Surrealismus (wenn er gut ist)!
Löcher graben und zuschütten
Und auch keine Angst vor Valerie Solanas’ »Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer«, dem sagenumwobenen Buch der Frau, die 1968 auf Andy Warhol schoss (und dafür drei Jahre in die Psychiatrie kam). Die Rechte daran hatte Olympia Press 1967 für 500 Dollar gekauft, weshalb es Schröder 1969 im März-Verlag veröffentlichte. Wie sich herausstellte, war Schröder der einzige Verleger, der Solanas Geld schickte und mit ihr ernsthaft korrespondierte und auch dann noch versuchte, mit ihr in Kontakt zu bleiben, als sie in den 80er Jahren obdachlos war und keine feste Adresse mehr hatte. Sie starb 1988 im Alter von 52 Jahren.
Ihr Buch ist weltberühmt, gelesen haben es die wenigsten. Es lohnt sich aber, denn es ist eine formvollendete satirische Abrechnung mit dem Patriarchat, mit der Männlichkeit als »Mangelkrankheit«. Die beste Stelle ist diese: »Setz’ dem kontaktschwachen Mann die fixe Idee in den Kopf, er sei zu etwas nütze, und er wird seine Existenz noch damit rechtfertigen, dass er Löcher gräbt und sie wieder zuschaufelt.«
Eine gute Ergänzung zu Valerie Solanas ist Kathy Acker in neuer Übersetzung von Johanna Davids: »Bis aufs Blut - zerfleischt in der High School«, das Anfang April herauskommt. Das Buch erschien schon einmal 1985 bei Heyne unter dem Titel »Harte Mädchen weinen nicht«. Dieser »New Wave Roman« (Untertitel) wurde damals von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf den Index gesetzt. Der Vorwurf lautete: »Kaum eine deviante Handlung ist ausgelassen, Geschlechtsverkehr reiht sich an Geschlechtsverkehr, Kindersex, Fellatio, Cunnilingus und abschließend Abtreibungen werden verharmlost«.
Wer darf mitreden?
Heute ist klarer, worum es der 1997 verstorbenen Acker ging: Weniger um »deviante Handlungen«, sondern um den Diskurs. Wer darf da mitreden und wie? Diese Fragen nach den Rahmenbedingungen stellt sie unakademisch und direkt, als eine Punkkünstlerin der 80er Jahre.
Im Nachwort feiert die Literaturwissenschaftlerin Rosa Eidelpes Acker als eine der »wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts«, deren verschiedene Perspektiven und Collagen »den Fokus weg von der Geschichte hin zu den formalen Strukturen der Sprache und Wahrnehmung« lenke. Dabei orientiere sie sich sowohl an der Cut-up-Technik von William S. Burroughs wie auch an der scheindokumentarischen Fotokunst von Cindy Sherman. »In dieser Welt Sex zu haben, heißt Sex mit dem Kapitalismus haben zu müssen«, fasst Ackers Protagonistin die grundsätzlichen Probleme zusammen. Oder wie es schon Valerie Solanas formuliert hatte: »Mit einem Wort, Verachtung ist die Devise des Tages. Liebe dagegen ist nicht Abhängigkeit oder Sex, sondern Freundschaft.«
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