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Zeitenwende - auch für Die Linke?

nd-Serie »Linke, Krieg und Frieden«: Wenn Kritik an Rüstungslobbyismus und Völkerrechtsbrüchen glaubwürdig sein soll, sind linke Vorschläge für eine Nato-Reform nötig

  • Gerry Woop
  • Lesedauer: 5 Min.

77 Jahre nach der Befreiung Deutschlands von der Nazidiktatur durch sowjetische und alliierte Truppen führt der russische Präsident einen Krieg in der Mitte Europas zur Eroberung eines souveränen Nachbarstaates. Dies muss erst einmal verarbeitet werden. Auch noch so viele Erörterungen über Fehler des Westens, diplomatische Defizite, gebrochene Versprechen, Völkerrechtsverletzungen durch Nato-Staaten und zu Sicherheitsperzeptionen geben keinen Grund für die Entscheidung Putins. Die daraus resultierenden Fragen zu Bedrohungsszenarien und Bündnisverteidigung müssen beantwortet werden.

Für die Linke ist es besonders schwierig, weil einige Grundannahmen der Abrüstungsdividende, der Situation einer Umgebung ohne potenzielle Gegner, der Möglichkeiten der OSZE, der Optionen eines Sicherheitssystems mit Russland nun wanken. Viele Bürger*innen haben Sorgen und sehen den Bedarf zur Sicherung der Verteidigungspotenziale Deutschlands. Militärbündnisfreie Staaten in Ost- und Nordeuropa sehen in der Nato eine mögliche und notwendige Sicherheitsgarantie gegen die offensichtliche russische Bedrohung. Darauf muss eingehen, wer politisch ernst genommen werden will.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Paul Schäfer beschrieb zum Start der nd-Serie »Linke Krieg und Frieden« die historischen Punkte, die sozialistische Gewaltanwendung und russisches Eingreifen betrafen und im linken Weltbild - auch beschönigend - eingeordnet wurden. Die Partei Die Linke hat sicherheitspolitisch mehrere Traditionslinien: von realsozialistischen Militärs bis zur quasi-pazifistischen Ablehnung von Militär - überformt durch den ideologisch gerahmten Umgang damit je nach Interessensituation.

Was fast nie eine Rolle spielte - und in der Debatte zu Matthias Höhns Positionen zur Bundeswehr wieder abgelehnt wurde -, war die Frage, ob es eine Armee zur Landesverteidigung braucht, was das ausRÜSTUNGstechnisch bedeutet und wie es sich mit der kollektiven Verteidigung über die Europäische Union und die Nato verhält. Aspekte der europäischen Armee wurden nicht ausgeführt. Der in vielen anderen Politikfeldern gesetzte Anspruch, Transformationsprozesse aus der gegebenen Realität zu beschreiben, wurde in sicherheitspolitischen Fragen vermieden.

Die Bundeswehr durfte keine Brunnen bauen, nicht Chemiewaffen abtransportieren und keine bedrohten afghanischen Ortskräfte retten. Die Nato sollte überwunden werden, an Veränderung wurden keine Gedanken verschwendet, und die EU sollte ebenfalls keine »Militarisierung« erfahren. Nun darf es nicht wundern, dass sich damit weder bei Wählermehrheiten noch bei Koalitionspartnern ein Vertrauen in außen- und sicherheitspolitische Politikfähigkeit verbindet.

Die Debatte zur aktuellen sicherheitspolitischen Situation wird ergeben, dass die Bundeswehr Landesverteidigung absichern und dementsprechend besser ausgerüstet werden muss. Dass sie nur in einem multinationalen Bündnis diese Funktion wird erfüllen können. Und dass die EU sehr lange benötigt, um eine solche Verteidigungsfunktion zu übernehmen und so lange die interinstitutionelle Bindung zur Nato auszugestalten ist. Neben vielen sicherheitspolitischen Risiken, auch räumlich entfernten oder nichtmilitärischen, bleibt die Fähigkeit zur Verteidigung notwendig und die russische Bedrohung wird noch einige Jahre gegeben sein.

Die Nato-Beitrittswünsche souveräner Staaten sollten solide geprüft werden. Die Lieferung von Defensivwaffen an ein angegriffenes Land, dessen Bürger es verteidigen wollen, ist in der realen derzeitigen Lage eine nachvollziehbare Maßnahme. Die EU- und die baltischen Nato-Partner brauchen eine klare Sicherheitsgarantie. Sanktionen lassen sich bei einem solch akuten Anlass wie einer laufenden Aggression nicht wirklich auf wenige Personen oder enge Bereiche begrenzen.

Das alles passt nicht mehr in ein veraltetes und vereinfachtes Zerrbild vom Imperialismus, gegen dessen Staat und Militär sich viele Linke aufgestellt sehen. Und falls doch, wäre anzuerkennen, dass für unsere europäischen Nachbarn im Osten und Norden dieser Imperialismus aus Russland kommt. Den Fluch der Ideologie muss man wohl versuchen zu überwinden. Wenn nicht in den genannten Fragen klarere Positionen eingenommen werden, bleiben berechtigte Kritiken an Rüstungslobbyismus und Völkerrechtsbruch verschiedener Staaten nicht ernst zu nehmen. Im Grunde sind Nato-Reform-Forderungen von links gefragt.

Das 100-Milliarden-Rüstungspaket ist eine Reaktion des Bundeskanzlers auf die Kriegssituation, eine vielleicht überzogene und garantiert nicht solide durchdachte, und ohne Reform des Beschaffungswesens und Diskussion über defensive Ziele dabei auch eine potenziell gefährliche. Aber eine zeitgemäße und aufgabengerechte defensive Ausrüstung der Bundeswehr könnte diese Summe vermutlich aufbrauchen.

Das ändert nichts an der Notwendigkeit der Kritik, dass es ebenso dringend notwendiges Geld für den Klimaschutz, ein solidarisches Gesundheitswesen, die Infrastrukturmodernisierung nicht gibt. Politisch bleibt es deshalb wichtig, die Schuldenbremse - die bewusst über das Grundgesetz für Sonderaufgaben ausgesetzt werden muss - auch an diesem Beispiel ad absurdum zu führen und angemessene Relationen einzufordern. Nicht zuletzt ist die Energiepolitik und damit die Klimawende - wie wir gerade sehr deutlich erleben - sicherheitspolitisch gesehen mindestens so wichtig wie die Bundeswehrmodernisierung und das müsste sich in einem sicherheitspolitischen Investitionspaket widerspiegeln. Spielraum für zeitgemäße linke Positionen gibt es auch nach einer Neuorientierung in der Zeitenwende.

Gerry Woop ist Politikwissenschaftler, erhielt zum Ende der DDR eine Offiziersausbildung. Er arbeitete mehrfach an programmatischen, strategischen und Wahlpapieren zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen der PDS und der Linken. Seit 2017 ist er Europa-Staatssekretär im Berliner Senat. Hier stellt er seine persönliche Meinung dar.

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