Werbung

»Alle Staaten müssen sich an das Völkerrecht halten«

Rechtsexperte Matthias Hartwig: »Werteorientierte« Außenpolitik könnte Friedensschluss verhindern

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Begriff Angriffskrieg findet sich zwar im Grundgesetz, das Völkerrecht kennt diesen Begriff jedoch so nicht, allerdings jenen der »Aggression«. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ließ kürzlich verlautbaren, dass Russland den Angriffskrieg in der Ukraine beenden müsse. Was erwarten Sie als Völkerrechtler von diesem Urteil?

In der Praxis, im Hinblick auf das russische Verhalten, gehe ich davon aus, dass Moskau sich nicht davon beeindrucken lässt. Das sage ich ganz klar, auch ungeachtet des Umstandes, dass diese einstweilige Anordnung bindend ist, also auch für Russland. Der Regierungssprecher in Moskau erklärte bereits, dass Russland den Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs nicht Folge leisten wird. Aber es ist natürlich ein sehr starkes Zeichen, auch an die Weltgemeinschaft, dass das oberste internationale Gericht festgestellt hat, dass Russland seine militärischen Aktionen aussetzen und eine Verschärfung der Situation vermeiden muss; insbesondere erklärte das Gericht seine tiefe Besorgnis wegen der Gewaltanwendung durch die Russische Föderation.

Interview
Matthias Hartwig forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht unter anderem zur völkerrechtlichen Praxis der Bundesrepublik und zum Agieren des ukrainischen Verfassungsgerichts. Mit ihm sprach Ramon Schack.

Könnte die Entscheidung von Den Haag denn als Präzedenzfall fungieren, um zukünftige oder laufende Kriege zu ächten?

Nur bedingt, insofern als hier der Fall durch bestimmte Umstände beim IGH landete, über die Genozidkonvention. In anderen Fällen wird es wesentlich schwieriger sein, über solche Fragen zu entscheiden. Dass gewissermaßen unmittelbar eine Aggressionshandlung zukünftig von Den Haag geächtet wird, ist eher nicht zu erwarten, da die Staaten sich in der Regel der Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofs nicht unterwerfen.

Besteht denn Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass das Völkerrecht politisch von einigen Staaten missbraucht werden könnte, um geopolitische Interessen durchzusetzen? Wenn ja: Was kann man dagegen tun?

Natürlich muss man immer wieder feststellen, dass das Recht angeführt wird, um eigene Positionen zu verteidigen. Das ist übrigens keine Spezifität des Völkerrechts, sondern ein Alltagsphänomen. In zivilrechtlichen wie auch in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten geht jede Partei davon aus, das Recht auf ihrer Seite zu haben.

Was unterscheidet denn eigentlich die militärische Aggression Saudi-Arabiens gegenüber dem Jemen seit 2015 von der Russlands gegenüber der Ukraine aus völkerrechtlicher Perspektive?

Das ist eine sehr gute Frage, die in diesem Zusammenhang auch gestellt werden muss. Russland hat keine handfeste rechtliche Grundlage genannt für den Einmarsch in die Ukraine, außer vagen Behauptungen, die Bevölkerung von Luhansk und Donezk verteidigen zu müssen, was aber jeder rechtlichen Grundlage entbehrt. Bei der Aggression Saudi-Arabiens gegenüber dem Jemen stellt sich der Fall etwas komplexer dar, weil der Präsident, welcher auch von den Vereinten Nationen als offizieller Vertreter Jemens anerkannt wurde, nach Saudi-Arabien geflohen ist, um von dort aus die Saudis zu einer militärischen Intervention in sein Land einzuladen. Ich halte das nicht für eine hinreichende Rechtfertigung für das militärische Vorgehen im Jemen, aber es ist dort zumindest der Ansatz einer Rechtfertigung da. Die Begründung, welche Russland für seinen Einmarsch in der Ukraine vorträgt, ist im Hinblick auf die Fakten wie auf die angebliche rechtliche Grundlage so absurd, dass es sich noch nicht einmal lohnt, ein Gespräch darüber zu beginnen.

Gehen Sie davon aus, dass eine sogenannte wertebasierte Außenpolitik, wie sie im politischen Berlin permanent propagiert wird, hilfreich für die Durchsetzung völkerrechtlicher Prinzipien ist?

Hierbei handelt es sich um eine schwierig zu beantwortende Frage. In der Theorie müssen sich alle Staaten an das Völkerrecht halten. Die Umsetzung dieses Prinzips in die Praxis erweist sich oft als nicht einfach, ich möchte hier nur an den Irak-Krieg erinnern, als die damalige Bundesregierung erklären ließ, dass Deutschland daran nicht teilnehmen wird. Um dann aber doch den USA die Erlaubnis zu erteilen, ihre Basen in der Bundesrepublik zu nutzen, um von dort militärisch im Irak einzugreifen. Damit kam Deutschland doch in die Position eines Angreiferstaates im Sinne der Aggressionsdefinition durch die UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1974. Hier zeigt sich, wie das Völkerrecht in der Praxis aufgeweicht wird, zum Beispiel durch Bündnisverpflichtungen, was ich nur kritisieren kann. Leider handelt es sich hierbei um eine Beschreibung der Realität. Es gibt auch die Absicht, Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schwere Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht begangen haben. Eine sogenannte werteorientierte Außenpolitik, die solche Forderungen verfolgt, kann in einem Kriegsfall auch einen Friedensschluss verhindern. Das haben wir übrigens auch im Verhältnis der Ukraine zu den Regionen in der Ostukraine erlebt, wo im Minsker Abkommen aus dem Jahr 2015 ausdrücklich geregelt war, dass alle an den militärischen Auseinandersetzungen beteiligten Personen nicht strafrechtlich belangt werden konnten. Dies wurde von der Ukraine aber nicht akzeptiert, was einer der Gründe dafür war, dass sich die Kämpfe in diesem Gebiet seit 2015 fortsetzten.

Wie kann sich Ihrer Meinung nach das Völkerrecht zu einer übergeordneten Instanz mit globaler Durchsetzungskraft entwickeln, wenn überhaupt?

Solch eine Vision würde ich natürlich absolut begrüßen, sonst würde ich mir als Völkerrechtler ja auch die eigene professionelle Grundlage entziehen. Wie könnte das geschehen? Völkerrechtliche Strukturen müssten stärker institutionalisiert werden, so dass internationale Organisationen über die Kompetenz verfügen, das Völkerrecht zu implementieren. Die Vereinten Nationen verfügen derzeit nicht über die Möglichkeiten, das Völkerrecht in einem Fall wie dem Krieg in der Ukraine durchzusetzen. Um bei diesem konkreten Fall zu bleiben: Durchsetzen kann das Gericht in Den Haag weder eine vorläufige Maßnahme noch ein Urteil. Wenn sich ein Staat nicht daran hält, müsste der UN-Sicherheitsrat die Entscheidung durchsetzen - und da haben wir das Problem des Vetorechts von Russland.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.