Hunger ist schlimmer als Covid

In Guatemala leidet die indigene Landbevölkerung unter der Pandemie mittlerweile größte Not

  • Andreas Boueke, Tecpán
  • Lesedauer: 9 Min.
Doña Marta trauert um ihren Ehemann, der in den USA ums Leben gekommen ist. Nachbarinnen sind für einen Kondolenzbesuch zu ihr gekommen.
Doña Marta trauert um ihren Ehemann, der in den USA ums Leben gekommen ist. Nachbarinnen sind für einen Kondolenzbesuch zu ihr gekommen.

Das Hochlandstädtchen Tecpán, knapp Hundert Kilometer westlich von Guatemala-Stadt, war einer der ersten Orte Mittelamerikas, in dem das Coronavirus viele Todesopfer gefordert hat. Das lokale Gesundheitszentrum gegenüber der Kirche am zentralen Platz soll 110 000 Menschen der Umgebung medizinisch versorgen. Doch der Leiter des Zentrums, Doktor Joel Cujcuj, beklagt, dass die Ausstattung seines Teams nicht annähernd ausreicht: »Alle Covid-Fälle werden von nur vier Personen betreut. Eine andere Gruppe bekämpft die Unterernährung, drei Krankenpfleger und zwei Ernährungswissenschaftlerinnen leisten Aufklärungsarbeit zu Ernährungsfragen. Aber in den abgelegenen Weilern der Provinz ist der Bedarf viel größer.«

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Im Laufe der vergangenen zwei Jahre hat die Zahl der chronisch unterernährten Kinder in Tecpán deutlich zugenommen, weil die Wirtschaft lange weitgehend stillstand. Märkte waren geschlossen. Viele Menschen durften ihre Dörfer nicht verlassen, nicht einmal, um auf ihren Feldern zu arbeiten. Die meisten dieser Einschränkungen sind längst aufgehoben, doch die Angst ist geblieben. Nur rund ein Drittel der guatemaltekischen Bevölkerung ist zweimal geimpft. In den Maya-Gemeinden sind es noch deutlich weniger. Die Menschen dort misstrauen der modernen Medizin, meint Doktor Cujcuj. »Außerdem erlauben sie nicht, dass Fremde in ihre Dörfer kommen. Nur Leute, die sie kennen, dürfen rein. Die Furcht ist groß, jemand könnte die Krankheit einschleppen.«

In der Umgebung von Tecpán leben vor allem Angehörige des Mayavolkes der Kaqchikel. Die medizinische Assistentin Ana Salomón ist oft lange unterwegs, um deren kleine Siedlungen zu erreichen. »Unsere Aufgabe ist es, die Quarantäne und die Isolierung der Covid-Kranken sicherzustellen. Wir begleiten die betroffenen Familien beim Infektionsschutz. Doch sobald wir das Wort ›Quarantäne‹ aussprechen, reagieren viele Leute panisch. Sie fragen uns: ›Wie sollen wir überleben, wenn wir viele Tage lang eingeschlossen sind? Wir haben nicht genug zu essen.‹«

Die Lehrerin Carmelina Lix ist im alten Stadtkern von Tecpán aufgewachsen. Ihre Großeltern haben Kaqchikel mit ihr gesprochen. Ende 2019, kurz vor Beginn der Pandemie, wurde sie in die Grundschule der abgelegenen Siedlung Paraxquín versetzt. In den wenigen Wochen, bevor die Schule wegen Corona geschlossen wurde, hatte sie nicht die Möglichkeit, alle Eltern ihrer Schülerinnen kennenzulernen. In den vergangenen beiden Jahren kam sie dann meist nur einmal die Woche nach Paraxquín, um den Familien Materialien für Heimunterricht zur Verfügung zu stellen. Heute aber macht sie einen Kondolenzbesuch. Der Vater eines ihrer Schüler ist gestorben.

Die junge Witwe heißt Marta. Vor wenigen Tagen hat sie die Nachricht erhalten, dass ihr Mann in den USA bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. »Wir alle sind sehr bestürzt über die Nachricht«, sagt Carmelina Lix. »Mit diesem Besuch wollen wir die Familie unterstützen und trösten. Wir haben ein paar Nahrungsmittel und ein wenig Geld mitgebracht.«

Carmelina Lix steht vor einer Hütte mit Wänden aus Lehm. Sie öffnet eine Tür aus alten Brettern und tritt auf den blanken Erdboden eines kargen Raums. Auf vier Plastikstühlen sitzen Frauen in den bunten Trachten der Kaqchikel-Kultur. Marta, die hagere Mutter des Schülers, sitzt auf einem wackeligen Holzbett. Carmelina Lix grüßt sie höflich: »Ich bin die Lehrerin ihres Sohnes José Angel. Heute komme ich in Begleitung eines Journalisten. Er würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Wenn Sie einverstanden sind, können Sie auf Kaqchikel antworten. Ich übersetze.«

Die junge Frau muss sich jetzt allein um ihre drei Kinder kümmern. Auf Kaqchikel erzählt sie von ihrem Mann, der seit seiner Kindheit als Tagelöhner gearbeitet hat: »Für ihn war es schwer, dass er den Kindern keine neue Kleidung kaufen und ihnen kein besseres Leben ermöglichen konnte. Für seine Arbeit hat er nie einen fairen Lohn bekommen. Oft hatten wir nicht genug zu essen. Deshalb träumte er seit Langem davon, in die USA zu gehen, um dort Geld zu verdienen.«

Als die Pandemie begann, traute sich die Familie lange nicht, Paraxquín zu verlassen. »Das wäre auch gar nicht möglich gewesen«, erinnert sich Marta. »Ab fünf Uhr nachmittags galt eine Ausgangssperre. Es war nicht mal erlaubt, dass die Männer abends zu Fuß von ihren Feldern zurück nach Hause gehen. Wie soll man da genug Nahrungsmittel anbauen?«

Chronische Unterernährung

Carmelina Lix übersetzt Martas Worte: »Sie sagt, ihre Familie habe nichts vom Staat bekommen. Deshalb sei ihr Mann in die USA gegangen. Den Schleusern musste er Geld zahlen, das er sich bei der Bank geliehen hat. Wer es in die USA schafft, bemüht sich zuerst, die Schulden abzustottern. Er hat seine Schulden längst nicht abgezahlt, und die Träume von einem besseren Leben haben sich in Luft aufgelöst.«

Auch in den USA fand Martas Mann keine gute Arbeit. Wegen Covid wurde in der Baubranche monatelang niemand eingestellt. In den Landwirtschaftsbetrieben hatten neu ankommende Arbeitssuchende keine Chance. Und in den Privathäusern wohlhabender Familien wollte niemand mehr Fremde für Renovierungsarbeiten oder Gartenpflege einstellen. So konnte er seiner Familie nie größere Geldsummen schicken. Marta musste selber sehen, wie sie etwas zu Essen bekam, während gleichzeitig die Preise für Mais und Bohnen ständig steigen.

»Seit meiner Kindheit bin ich an Hunger gewöhnt«, sagt Marta. »Das hat sich auch nach der Heirat nicht geändert. Manchmal höre ich von Leuten, die Fleisch essen. Das kenne ich nicht. Für mich sind Reis und Bohnen das beste Essen. Das reicht. Aber manchmal esse ich gar nichts. Wenn ich nur ein bisschen was habe, gebe ich es den Kindern.«

Guatemala ist das bevölkerungsreichste Land Mittelamerikas. In den Jahren vor der Pandemie waren die Statistiken der volkswirtschaftlichen Entwicklung positiv. Trotzdem fiel die Nation bei den sozialen Indikatoren zurück, besonders im Bereich der Armutsbekämpfung. Die meisten der staatlichen Programme zur Bekämpfung des Hungers sind jämmerlich ineffizient. Seit Beginn der Pandemie hat sich die offizielle Zahl der Kinder, die an chronischer Unterernährung gestorben sind, mehr als verdoppelt. Gleichzeitig ist die Steuerquote des Landes so gering wie nirgends sonst in Lateinamerika. Überall auf dem Subkontinent werden die Einkommen der Bevölkerung höher besteuert als in Guatemala. Auch deshalb ist der Reichtum des Landes extrem ungleich verteilt. Zudem gehört Korruption auf allen Ebenen der Verwaltung zum Alltag.

In dieser Situation fragt sich die junge Witwe Marta: »Was soll ich tun?« Sie als Frau bekommt keine Lohnarbeit. Sie kann nur am Webstuhl arbeiten. Aber es dauert lange, bis eine Decke fertig gewebt und verkauft ist. Sie fürchtet den Hunger mehr als die Pandemie. Die Leute im Dorf sagen: »Es ist besser, an Covid zu sterben als an Hunger. Wenn du etwas zu essen hast, dann wird die Krankheit schon nicht so schlimm werden.«

Der Arzt Joel Cujcuj kennt den Mangel in Weilern wie Paraxquín seit Jahrzehnten. Ein Landarbeiter dort verdient oft weniger als fünf Euro am Tag. »Viele Familien ernähren sich ausschließlich von Maistortillas, Bohnen und Kaffee. Damit decken sie ihren Bedarf an Kohlenhydraten, aber es reicht nicht für eine angemessene Ernährung. Wir versuchen, die ärmsten Familien zu unterstützen, die von Covid betroffen sind; diejenigen, die während der Quarantäne nicht die Möglichkeit haben, Nahrungsmittel zu besorgen. Viele haben einfach gar nichts.«

Die Ernährungswissenschaftlerin Emily Guzmán sitzt neben einem großen Tisch, auf dem eine mechanische Waage steht. Damit prüft sie das Gewicht von Säuglingen. Unterernährte Kleinkinder haben einen traurigen, apathischen Blick. Sie sind dürr und wollen immer schlafen. Viele lernen erst sehr spät laufen und sprechen. Ein junges Gehirn braucht ausreichend Proteine und Fette, um sich gut zu entwickeln. In letzter Zeit hat Emily Guzmán ständig mit Kindern zu tun, die in ihren ersten beiden Lebensjahren nicht ausreichend ernährt wurden. »Bei den Zwei- bis Fünfjährigen beobachten wir oft eine Mangelernährung, die sich vor allem beim Schuleintritt bemerkbar macht. Ihr Gedächtnis funktioniert schlecht, sie haben eine geringe Körpergröße und Lernschwierigkeiten.«

Weit über die Hälfte der indigenen Kinder im Grundschulalter leidet an chronischer Unterernährung. Das Problem beginnt häufig schon während der Schwangerschaft. Die werdenden Mütter essen nicht genug. »Es ist so, als würde der Hunger über Generationen vererbt«, sagt Emily Guzmán. »Das war schon vor Covid so.«

Zwei Jahre keine Schule

Die Lehrerin Carmelina Lix erklärt, dass die Eltern eigentlich jede Woche zur Schule kommen sollen, um Aufgabenzettel für den Fernunterricht abzuholen. »Aber wenn der Vater in der nächsten Woche viele Fehler zurückbringt, kann der Lehrer ja nicht mit den Schülern schimpfen. Also schimpft er mit dem Vater. Dann denkt der sich natürlich: ›Ich habe keine Lust mehr, dass mein Sohn zur Schule geht.‹«

Laut der Weltbank gehen guatemaltekische Kinder im Schnitt 6,3 Jahre lang zur Schule. Noch weniger Schulzeit erleben in Lateinamerika nur die Kinder in Honduras und Haiti.

Wenn die Grundschullehrerin Carmelina Lix aus dem Städtchen Tecpán nach Paraxquín kommt, ist sie noch immer jedes Mal erschüttert über die extreme Armut ihrer Schülerinnen. Die meisten wohnen zusammen mit vielen Personen in einem einzigen Raum einer kärglichen Hütte. »Eigentlich bräuchten die Familien hier vor allem Informationen, wie sie ihr Überleben sichern können«, sagt Carmelina Lix. »Unter diesen Umständen bin ich mir gar nicht sicher, ob es sinnvoll ist, den Kindern die Geografie ferner Kontinente beizubringen oder ihnen von den alten Griechen zu erzählen.«

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In den vergangenen beiden Jahren hatten solche Zweifel über die schulischen Curricula keine große Bedeutung, weil die meisten Kinder auf dem Land sowieso kaum Schulbildung bekommen haben. Ohne Zugang zum Internet kann Fernunterricht nicht überzeugend funktionieren. Alle Kinder wurden automatisch versetzt. So haben viele die Erfahrung gemacht: Es ist besser, Arbeit zu suchen, um etwas Geld zu verdienen, als sich um die Schularbeiten zu kümmern.

In Zeiten der Corona-Pandemie scheint alles, was mit Schule zu tun hat, nicht mehr nützlich zu sein. So kommt es zu Rückschritten in der intellektuellen Entwicklung, die viele der indigenen Kinder nie mehr aufholen werden. Dann verschließen sie sich wieder in ihrem bäuerlichen Leben, so wie früher, als Bildung eine Option war, die sich nur sehr wenige Maya-Familien leisten konnten. Die Ernährungswissenschaftlerin Emily Guzmán prophezeit: »Langfristig wird die wirtschaftliche Krise hier in Tecpán schlimmere Konsequenzen haben als das Virus selbst. Die Krise produziert Angst, Analphabetismus, Hilflosigkeit und Hunger. All das zusammen genommen ist tödlicher als das Virus.«

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