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»Wir brauchen den Druck von unten«
Perus Ex-Frauenministerin Anahí Durand zieht eine erste Bilanz der linken Regierung von Pedro Castillo
Vor knapp einem Jahr wurde in Peru überraschend Pedro Castillo zum Präsidenten gewählt. Was hat sich seither getan?
Wir befinden uns in einer Krise mit offenem Ausgang. Seit dem Regime von Alberto Fujimori 1992 geht es bergab. Es gibt ständig Korruptionsaffären und eine enorme Instabilität mit vier Staatschefs in fünf Jahren. Die rechte Kongressmehrheit missbraucht den Mechanismus zur Abberufung des Präsidenten. Zudem hat die Pandemie das Land verwüstet: Wir halten den traurigen Weltrekord als Land mit 98 000 Covid-Waisen, und es gab 220 000 Tote in der ersten und zweiten Welle. Bei den Wahlen im April 2021 gab es eine starke Polarisierung und Forderungen nach Anerkennung und Rechten aus der Bevölkerung.
Wofür steht der Präsident?
Für die Forderungen der vernachlässigten Bevölkerungsmehrheit. Die Ausgeschlossenen wollen nach 200 Jahren politischer Unabhängigkeit endlich repräsentiert werden. Castillo kommt von ganz unten, er war Bauer, Dorfschullehrer, unkonventioneller Gewerkschafter. Aber er gewann die Stichwahl mit gerade 45 000 Stimmen mehr als Keiko Fujimori. Den Wandel zu organisieren, mit einem antiliberalen Regierungsprogramm und einer Rechten, die den Wahlsieg nicht anerkennen wollte, ihn seit dem ersten Tag boykottiert hat und schon zweimal im Parlament stürzen wollte, das ist eine übermenschliche Aufgabe.
Auf wen kann er sich denn stützen?
Castillos größte Schwierigkeit ist es, eine stabile Mehrheit zu organisieren. Wir von der Partei Nuevo Perú (Neues Peru) haben ihn unterstützt mit Pedro Francke als Wirtschaftsminister und mit mir als Frauenministerin. Leider gibt es bei der Partei Perú Libre (Freies Peru), für die Castillo angetreten war und die die Regierungskoalitionen schmieden müsste, Sektierertum und Verantwortungslosigkeit. Daher hat sich der Präsident vor allem mit alten Bekannten umgeben.
Bis zu Ihrem Rücktritt bei einer von mehreren Kabinettsumbildungen Anfang Februar waren Sie Ministerin für Frauen und vulnerable Bevölkerungsgruppen - ist das nicht etwas viel für ein Ministerium?
Diesen Zuschnitt haben wir von unseren Vorgängerinnen übernommen. Die vulnerable Bevölkerung, das sind Ausgeschlossene wie Behinderte, Waisen, sehr alte Menschen oder Migranten.
Ihre konservative Nachfolgerin war gerade eine Woche im Amt, jetzt wird das Ministerium wieder von einer Feministin geleitet. Dieses Hin und Her spricht nicht für eine große Wertschätzung des Amtes.
Nein, Frauenthemen waren noch nie eine Priorität, leider ist es immer noch ein symbolisches Ministerium, dem gerade 0,5 Prozent des Haushaltes zugestanden werden.
Was haben Sie in sechs Monaten erreicht?
Mit einer Perspektive des Feminismus von unten und mitten in der Wirtschaftskrise haben wir die Care-Netzwerke und sehr konkret die Autonomie der Frauen gestärkt. Für Covid-Waisen haben wir eine unbürokratische monatliche Zahlung durchgesetzt und lassen sie psychologisch begleiten. Wir haben die Rolle des Ministeriums bei der Betreuung für Alte gestärkt und gleichzeitig an der Agenda der gleichen Rechte für Frauen gearbeitet.
Der Präsident hatte sich im Wahlkampf gegen die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ausgesprochen. Wie kann man da vorankommen?
Genauso wenig wie in Argentinien wird das durch ein Dekret von oben kommen, sondern durch Druck aus der Gesellschaft. Das soziale Gewebe in Peru hat durch den inneren bewaffneten Konflikt, durch Fujimori und den Neoliberalismus sehr gelitten.Daher sind die sozialen Bewegungen schwach, der Feminismus hat sich anders als in Chile oder Argentinien in NGOs zurückgezogen und ist nicht so stark an der Basis aktiv. Deswegen gibt es keinen starken Druck von der Straße für sexuelle reproduktive Rechte oder für legale Abtreibungen. Außerdem sind konservative, evangelikale Gruppen vor Ort sehr aktiv, helfen mit Kinderkrippen oder bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Das macht es für den Staat nicht leichter.
Also habe ich mich dafür entschieden, zunächst dort zu arbeiten, wo es Übereinstimmungen mit dem Präsidenten gab, bei der wirtschaftlichen Autonomie für Frauen, in der Care-Arbeit, dem Programm für Unternehmerinnen, dem Kampf gegen Gewalt. Andere Themen sollten aufgegriffen werden, sobald die Nachfrage stärker würde. Jetzt arbeite ich wieder in den Bewegungen und parteipolitisch und sehe, was sich an der Universität und unter den jungen Frauen tut, das erfüllt mich mit großer Hoffnung.
Was war Ihre schönste Erfahrung als Ministerin?
Die Verbindung mit der Basis. In Peru haben wir eine sehr reichhaltige Gemeinschaftstradition, eine tief sitzende Kultur. Diese immer noch vorhandene Art der Organisation hat die Armen in schwierigen Situationen immer wieder gerettet. Diese Zusammenarbeit mit Frauen an der Basis war sehr befriedigend. So sind in der Pandemie, als viele wieder hungern mussten, die »gemeinsamen Kochtöpfen« wiederbelebt worden, eine von Freiwilligen getragene Initiative, wo man auf dem Markt Essen für 50 oder 100 Familien holt und damit kocht. Das sind kollektive Subjekte, die den Wandel über den Neoliberalismus hinaus organisieren, ein Beispiel für solidarische Ökonomie.
Im Februar haben Sie die zweimalige Präsidentschaftskandidatin Verónika Mendoza an der Spitze von Nuevo Perú abgelöst. Wie möchte Ihre Partei die sozialökologische Transformation angehen?
Es gibt ja viele Organisationen, Gemeinschaften, indigene Völker mit Erfahrungen im Widerstand gegen Großprojekte. Mit denen müssen wir zusammenarbeiten, und zwar nicht nur in Wahlkampfzeiten. Wir müssen ein Projekt für das Land entwickeln, und das geht über eine neue Verfassung, und dafür brauchen wir den Druck von unten.
Und wie ist das Verhältnis zur Regierung?
Unsere Unterstützung der Regierung hängt nicht von ein paar Ministerien ab. Wir müssen von unten dafür sorgen, dass Castillo weitermachen kann und das Erreichte sichern kann, denn seine Niederlage wäre auch unsere. Aber die Krise muss grundlegender angegangen werden, durch eine neue Verfassung. Doch die Rechte lässt nicht locker. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat die Aktivitäten von Kräften unterstützt, die die Regierung stürzen wollen. Und es gibt bewaffnete Gruppen auf der extremen Rechten.
Wie geht es weiter?
Wir warten auf ein Gesprächsangebot des Präsidenten an die Linke, um das Bündnis, das ihn unterstützt hat, wiederherzustellen. Die Reformagenda, für die er gewählt wurde, muss wieder auf die Tagesordnung: die Steuerreform, eine zweite Agrarreform, die höhere Besteuerung der Bergbaufirmen, die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens … Diese Themen müsste er angehen, aber er denkt an eher kurzfristig an Stimmen im Parlament, um zu überleben - denn gerade hat die Rechte wieder ein Amtsenthebungsverfahren gestartet. Es ist ein sehr kritischer, gefährlicher Moment.
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