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»Die Vorschläge der Bürger dürfen nicht in der Schublade verschwinden«
Der Europaabgeordnete Helmut Scholz zu neuen Versuchen, der EU-Zukunftskonferenz die Spitze zu nehmen
In der vergangenen Woche ist eine Erklärung der schwedischen und anderer Regierungen von EU-Mitgliedstaaten bekannt geworden, in der sie ablehnen, die Ergebnisse der Zukunftskonferenz verbindlich in europäisches Recht zu überführen. Waren damit über ein Jahr Debatten, Bürgerforen und Parlamentarierkonferenzen in allen 27 EU-Staaten umsonst?
Seit einem Jahr berät die Konferenz zur Zukunft Europas (COFE) über das künftige Aussehen der EU und ihrer Politik. Am 9. Mai, dem Europatag, soll die von EU-Kommission, Rat und Europaparlament organisierte multilaterale Konferenz mit der Vorlage eines gemeinsamen Papiers der Präsident*innen der drei EU-Institutionen feierlich abgeschlossen werden.
Die Schlusserklärung wird aus den Empfehlungen der Versammlungen von Bürger*innen sowohl auf EU-Ebene als auch in allen Mitgliedstaaten sowie den Plenarkonferenzen mit ihren Arbeitsgruppen (dem institutionellen Teil von COFE) zusammengeführt. Einfließen werden auch die Inhalte, die auf der interaktiven digitalen Plattform von COFE diskutiert wurden. Auf der Plattform wurden seit Ende 2021 allein 30 000 Beiträge und 10 000 Vorschläge zu Themen von Klimawandel über Rechtsstaatlichkeit bis Migration eingestellt.
Der Linke-Politiker Helmut Scholz ist einer der Vertreter*innen des Europaparlaments in der Zukunftskonferenz.
Das ist so nicht ganz richtig. Es gibt ein Statement des schwedischen Europaministers, in dem er deutlich macht, dass man sich mit den Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger, die sie im Rahmen der COFE herausgearbeitet haben, als Ergebnis der Konferenz begnügen sollte. Damit wird jedoch negiert, dass die auf diesen Empfehlungen basierenden Schlussfolgerungen der Plenarkonferenz insgesamt nur der Start für einen Arbeitsprozess sein können, auch diese Empfehlungen in reale Politik umzusetzen.
Behalten nun die Kritiker*innen der Zukunftskonferenz recht, die darin ein Demokratie-Placebo gesehen haben, das zu keinen realen Veränderungen führt?
Die Erklärung ist Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung im Rat – und sicherlich nicht nur dort –, die davon ausgeht, dass die Verträge ja funktionieren. Damit müssten sie auch nicht geändert werden. Aber seien wir doch realistisch: Zum ersten Mal in der EU-Geschichte haben die drei europäischen Institutionen gemeinsam einen Konferenzmarathon aufgesetzt, der die Bürger*innen ebenso einbezieht wie die organisierte Zivilgesellschaft, Nichtregierungsorganisationen, die Umwelt- und Frauenbewegung und und und. Nun liegen Dutzende konkrete Empfehlungen vor, die sehr genau umreißen, wo aus Sicht der Menschen in allen EU-Mitgliedstaaten europäische Politik verändert werden kann und muss. Glauben die Regierungen ernsthaft, sie könnten das ignorieren? Und ganz klar: Wir, die Europaabgeordneten, über Parteigrenzen hinweg, waren es, die auf diesen Charakter der Zukunftskonferenz von Beginn an gedrängt haben. Und da stehen wir im Wort als direkt gewählte Volksvertreter*innen. Wir können und werden nicht zulassen, dass die Ergebnisse nach dem 9. Mai in Schreibtischschubladen verschwinden.
Das heißt aber noch lange nicht, dass der Lissabonner EU-Vertrag ersetzt wird.
Die Konferenz an sich ist kein Entscheidungsgremium. Sie kann nur Schlussfolgerungen vorlegen, mit denen die drei Institutionen dann umgehen müssen. Und deshalb ist es richtig, dass das Parlament mehrheitlich eine Resolution anschieben wird, die die nächsten Schritte festlegt. Darüber haben die 108 Abgeordneten, die das Europaparlament in der COFE vertreten, gerade noch einmal beraten. Ich bin optimistisch, dass wir uns in dieser Resolution für die Einberufung eines neuerlichen Konvents aussprechen, um die in den neun Arbeitsgruppen der Konferenz und den Bürger*innen-Versammlungen erarbeiteten Vorschläge in EU-Recht umzusetzen.
Das letzte Wort haben dabei aber wieder die Regierungen, also der Rat. In dieser Hinsicht ist die Erklärung aus Stockholm kein gutes Signal.
Ja, und es ist nicht nur Schweden, von dem Widerstand zu erwarten ist. Aber noch einmal: Der Rat muss sich zu den Positionen, die die Bürger*innen eingebracht haben, verhalten. Mehrheitsentscheidungen in einer ganzen Reihe von Politikfeldern, Klimaschutz als Zielbestimmung der EU, eine rechtsverbindliche Sozialpolitik – dazu brauchen wir Vertragsänderungen. Letzteres ist ein gutes Beispiel: Ohne Aufnahme des Sozial-Fortschrittsprotokolls ins EU-Recht wird es kein soziales Europa geben, das haben nicht nur wir Linke, sonder auch der Europäische Gewerkschaftsbund immer wieder betont. Und das wäre heute notwendiger denn je, denn mit massiv steigenden Energiekosten, mit wachsenden Lebensmittelpreisen, mit galoppierender Inflation rückt die soziale Frage ins Zentrum der EU-Politik. Mit dem Krieg Putins gegen die Ukraine sind aber auch die Außen- und Sicherheitspolitik und die Anforderungen an eine solidarische Migrations- und Asylpolitik ganz aktuelle Themen, denen sich die verbleibenden drei Plenarkonferenzen, die nächste übrigens am Freitag dieser Woche, stellen müssen.
Wie sehen Sie dabei die Haltung der Bundesregierung? Die hat schließlich der Zukunftskonferenz und der Reformierung der Europäischen Verträge den ersten Absatz des Europa-Kapitels im Koalitionsvertrag gewidmet.
Wenn ich die deutschen Parlamentsvertreter*innen in der Plenarkonferenz nehme, haben diese eine positive und unterstützende Position eingenommen. Auch von der Vertretung der Bundesregierung in der COFE habe ich in Bezug auf die demokratische Weiterführung der Konferenz positive Signale wahrgenommen.
Und wie steht es um die Beteiligung Ihrer eigenen Partei, Die Linke, an der Zukunftskonferenz?
Ich glaube schon, dass die maßgeblichen Vertreter unserer Partei begriffen haben, dass diese Zukunftskonferenz ein Prozess ist, von dem man sich nicht fernhalten kann, in den man aktiv eingreifen muss. Und dass sie dies auch im Rahmen der Europäischen Linken deutlich gemacht haben. Ob die vielen Mitglieder sich die Mühe und das politische Vergnügen gemacht haben, mal auf die digitale Plattform zu schauen, reinzuhören in die spannenden Debatten, kann ich nicht beantworten. Aber ich habe selbst viele Mitglieder auch unserer Partei in den nationalen oder in den regionalen Bürgerforen erlebt, in denen sie mitgearbeitet haben, Veränderungsnotwendigkeiten in der EU-Politik nicht nur zu benennen, sondern auch Vorschläge auf den Tisch zu legen.
Sicher hätte ich mir schon ein noch aktiveres Agieren meiner Partei gewünscht, stärker auch öffentlich wahrnehmbar. Denn machen wir uns nichts vor: Im Mai 2024 findet die nächste EU-Wahl statt, und deshalb muss sich Die Linke spätestens Ende 2022, Anfang 2023 bereits sehr konkret an die Formulierungen ihres Europawahlprogramms setzen. Die Zukunftskonferenz mit ihren vielen Facetten und vor allem die breite Teilnahme von jungen Menschen sollten da eine gute Ausgangsbasis für die Bestimmung der europapolitischen Visionen und Forderungen der deutschen Linkspartei für eine soziale, solidarische und friedliche EU sein.
Das ungekürzte Interview: www.die-zukunft.eu
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