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»In Mariupol ist es nirgendwo sicher«
Alisa Bauchina hilft bei der Evakuierung von Menschen aus der zerschossenen ukrainischen Hafenstadt
Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol wird mittlerweile seit mehr als drei Wochen von russischen Truppen belagert. Sie engagieren sich bei der Koordinierung der Hilfe für die Eingeschlossenen. Was tun Sie genau?
Ich habe auf Facebook ein Foto von einem neunjährigen Jungen gesehen, dessen Mutter umgekommen ist und der mit seiner unter Schock stehenden Oma in einem Keller in Mariupol sitzt. Seine Verwandten hatten im Internet nach einer Möglichkeit gesucht, ihn da irgendwie rauszuholen. Da dachte ich, dass ich auch was tun muss. Ich habe dann auf Telegram mehrere Gruppen gefunden, über die sich Helfer koordinieren. Da bin ich jetzt so eine Art Mediator. Ich helfe zum Beispiel beim Erstellen von Listen mit Menschen, die in Mariupol auf ihre Evakuierung warten. Deren Verwandte schreiben mich über soziale Netzwerke an, um sie auf eine Liste setzen zu lassen. Davon gibt es gleich mehrere: von verschiedenen Freiwilligen, Organisationen, Stiftungen, NGOs. Ich versuche dann, Freiwillige in Saporischja (Anm. d. Red.: 230 Kilometer nordwestlich von Mariupol, die nächste ukrainisch kontrollierte Großstadt) zu finden, die nach Mariupol fahren können - und wollen. Das sind ausschließlich Freiwillige, es gibt keine staatlichen Evakuierungen. Außerdem suche ich auch nach geeigneten Empfängern von Sachspenden.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Stadt wird unablässig von der russischen Armee beschossen. Wie geht es den Menschen, die in den Kellern ausharren?
Die Lage vor Ort ist schlimm: Es gibt keine Heizung, kein Gas, kein Wasser und keinen Strom. Die Menschen sitzen alle in den Kellern. Das Essen wird knapp, die Supermärkte sind kaputt. Viele habe nicht mal mehr die Kraft, um ein Loch vor dem Haus für die Toten zu graben. Die Menschen sind in einem Schockzustand, es ist brutal. Die Keller zu verlassen, ist lebensgefährlich. Vor ein paar Tagen wurden an die 20 Menschen erschossen, die zum Wasserholen rausgekommen waren. Die Babys haben keine Windeln mehr. Es gab Plünderungen. In Mariupol ist es nirgendwo sicher. Der Handyempfang ist ausgefallen oder funktioniert nur noch in einigen Stadtvierteln. Die Menschen können ihre Verwandten nicht kontaktieren.
Können die Menschen noch aus eigener Kraft aus Mariupol herauskommen?
Die Stadt unbeschadet zu verlassen, ist praktisch unmöglich. In den Straßen toben Kämpfe. Wenn man den Keller verlässt, kann man jederzeit auf russische Soldaten treffen. Manche kommen an ihnen vorbei, können sie überreden. Es gibt aber auch Fälle, dass Menschen einfach erschossen wurden. Sehr viele versuchen trotzdem, Mariupol zu Fuß zu verlassen. Dafür müssen sie bis zu 20 Kilometer laufen, unter der ständigen Gefahr, beschossen zu werden. Immer wieder schaffen es aber Leute raus, ich weiß nicht, wie. Die Stadt ist ja eingekreist. Wir suchen dann nach Leuten, die sie abholen. Dass die Flucht mit dem eigenen Auto aus Mariupol gelingt, ist auch unwahrscheinlich. Manche Straßenzüge existieren gar nicht mehr. Die sind so zerbombt, dass da nur noch ein Panzer durchkommt. Zudem gibt es kein Benzin mehr. In der gesamten Stadt gibt es keine einzige Möglichkeit, um noch zu tanken. Aus geparkten Autos wird Benzin geklaut. Die Menschen befürchten, auf der Flucht ohne Sprit liegen zu bleiben.
Wie riskant sind die Evakuierungen aus Mariupol für die Freiwilligen selbst?
Das sind wirklich Helden, die jeden Tag in einer Kolonne von bis zu 50 Autos losfahren. Niemand weiß vorher, ob er wieder heil nach Hause zurückkommt. Auf dem Weg von Saporischja nach Mariupol muss man mehrere russische Checkpoints passieren, zudem wurden Minen verlegt. Man weiß auch nicht, ob man überhaupt heil nach Mariupol reinkommt. Wenn ein Wagen von den Russen getroffen wird, halten die anderen auch nicht an. Viele wurden tödlich getroffen, als sie Menschen aus den Kellern holten und gerade zu den Autos gingen. Anderen, die gekommen waren, um ihre Familien zu evakuieren, wurde das Auto vor der Rückfahrt gestohlen.
Wie geht es nach der Flucht aus Mariupol für die Menschen weiter?
Sie kommen zunächst nach Saporischja. Dort gibt es provisorische Unterkunftsmöglichkeiten. Viele nehmen Flüchtlinge für eine Übernachtung auf. Aber es sind wirklich Tausende Menschen. Die Stadt ist mit einer solchen Situation völlig überfordert. Viele wollen auch weiter in den Westen - nach Lemberg oder in die EU. Es weiß ja niemand, wie es weitergeht in der Ukraine.
Russland soll Einwohner von Mariupol zwangweise evakuieren. Was wissen Sie darüber?
Wenn die - also ich spreche von der DNR (Anm. d. Red.: die sogenannte Volksrepublik Donezk) - einen Stadtteil von Mariupol erobert haben, wird geschaut, wo sich die Menschen verstecken. Dann geben sie den Leuten 15 Minuten Zeit, um das Nötigste zu packen. Und dann werden sie zwangsweise nach Russland evakuiert, in erster Linie nach Taganrog (Anm. d. Red.: Hafenstadt am Asowschen Meer, etwa 110 Kilometer östlich von Mariupol). Andere Evakuierungsziele werden nicht angeboten. Die Menschen werden im russischen Fernsehen dann als von Moskau gerettete Flüchtlinge inszeniert. Aber nach meiner Meinung ist das eine Deportation. Es ist sehr traurig, wenn man dann Sprachnachrichten von Menschen bekommt, die nun in Russland sind. Klar, sie haben etwas zu essen und zu trinken. Aber sie sind nicht da, wo sie sein wollten. Und was jetzt weiter mit ihnen passiert, weiß auch niemand. (Anm. d. Red.: Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax vom Donnerstang sollen auf diese Weise bereits 81 984 Menschen nach Russland gebracht worden sein.)
Ist Mariupol überhaupt noch zu halten?
Dazu kann ich mich nicht äußern, ich befinde mich ja nicht in Mariupol. Aber es gibt sehr viele Gefechte in den Straßen. Die Russen - also die DNR - kontrollieren schon mehrere Stadtbezirke wie Lewyj Bereg und Kirowa und andere. Sie wollen noch weiter vorankommen und rücken immer weiter vor. Aber die Ukrainer wollen nicht aufgeben.
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