Der Dilettant und der Dichter

Im Berliner Schloss Monbijou fand dank des Polen-Fürsten Anton Radziwiłł die erste Aufführung von Goethes »Faust« statt

  • Kristiane Lichtenfeld
  • Lesedauer: 9 Min.

Goethe und Berlin? Nein, von einer Liebe des Meisters zur eher herben, wenig Lebensart zeigenden preußischen Hauptstadt kann nicht die Rede sein. Nur ein einziges Mal, vom 15. bis 23. Mai 1778, besuchte Goethe Berlin. Der 29-Jährige war da schon berühmt als Verfasser des »Werther« und des »Götz von Berlichingen« - die spektakuläre Uraufführung des Letzteren hatte 1774 im Berliner Komödienhaus in der Behrenstraße, dem Vorläufer der Komischen Oper, stattgefunden.

Goethe war jedoch nicht eigens als Dichter unterwegs, vielmehr begleitete er als Geheimer Legationsrat im Conseil des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar seinen Dienstherrn auf einer Reise in die Hauptstadt Friedrichs II., um neue Kriegspläne des mit 26 Jahren auf der Höhe seiner Macht stehenden Monarchen zu erkunden. Nebenher jedoch fand Goethe Gelegenheit, unter anderen dem Radierer und Kupferstecher Daniel Chodowiecki zu begegnen, der die Erstausgabe seines »Werther« illustriert hatte, sowie dem Maler Anton Graff und der Dichterin Anna Luise Karsch. Auch hörte er eine Predigt des Theologen und Moralphilosophen Johann Spalding, Propst der Nikolaikirche. Am geistigen Leben der preußischen Aufklärung erschien Goethe interessiert, Berlin löste jedoch widersprüchliche Empfindungen, Unmut und Beklemmung in ihm aus. Was da aus der »gewissen nordöstlichen Richtung« kam, verursachte Goethe zeitlebens Unbehagen, es entsprach weder seiner Wesensart noch seinem Zeitgeistverständnis. Goethe stellte den Absolutismus bereits in Frage.

1823 tat der alternde Dichter seinem Sekretär Eckermann gegenüber seinen bleibenden Ausspruch über die Berliner: »Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, dass man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten.« Und im Mai 1831 sprechen Goethe und Eckermann über das Dämonische. Goethe: »Es wirft sich gern an bedeutende Figuren, auch wählt es sich gerne etwas dunkele Zeiten. In einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit, sich zu manifestieren.«

Die Sticheleien enden nicht ... Dennoch: Berlin zeigt sich dem Dichter wohlwollend. Nicht nur, dass wie bereits erwähnt, der »Götz« hier uraufgeführt wurde und Chodowiecki den »Werther« illustrierte, nein, sogar der »Faust«, erlebte hier, ein Jahrzehnt vor der öffentlichen Uraufführung am Braunschweigischen Hoftheater 1829, seine erste Premiere vor der preußischen Hofgesellschaft. Zwei Namen sind in diesem Zusammenhang zu nennen - der Berliner Carl Friedrich Zelter und der litauisch-polnische Fürst Anton Heinrich Radziwiłł. Dazu zwei Berliner Gebäude, die der Spaziergänger von heute in der Stadt nicht mehr findet: das Palais in der Wilhelmstraße 77 und das in einem Garten an der Spree gelegene Lustschloss Monbijou in der Oranienburger; beide zerstört infolge unseliger deutscher Geschichte.

Mit Zelter, der über mehrere Jahrzehnte das Berliner Musikleben wesentlich beeinflusste, führte Goethe seit 1799 einen herzlichen Briefwechsel. Ein Besuch Zelters 1802 in Weimar besiegelte die Freundschaft. Goethe schätzte an dem Maurer, Komponisten und Direktor der Berliner Singakademie, trotz einer gewissen äußerlichen Derbheit, die große innere Zartheit. Er gab nicht nur Zelters Vertonungen seiner Lieder und Balladen den Vorzug - darunter aus »Wilhelm Meister« und Gretchens Gesang »Der König von Thule« -, er wählte diesen auch zu seinem Berater in allen musikalischen Fragen. Goethes Wunsch indessen, seine Faust-Dichtung in Musik zu setzen, versagte sich Zelter. Dafür machte jener Goethe auf den in Berlin ansässigen Fürsten Anton Radziwiłł aufmerksam, der seit dem Erscheinen des ersten Teils des »Faust« damit befasst war, eine Musik zu der Dichtung zu komponieren.

Anton Heinrich Radziwiłł war Sohn des Fürsten Michael VI., des letzten Palatins von Wilna. Für das litauische Magnatengeschlecht, das seit dem 15. Jahrhundert eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Königreichs Polen gespielt hatte, war die Pflege und Förderung von Musik und Dichtung eine Familientradition. 1795, nach der dritten polnischen Teilung, ging Fürst Michael mit seiner Familie zunächst nach Sachsen, bald aber nach Preußen. Ein Glücksfall war die - vom preußischen Hofadel unter dem Aspekt der Ebenbürtigkeit unwillig tolerierte - Eheschließung Radziwiłłs 1796 mit der um fünf Jahre älteren Prinzessin Luise von Preußen, einer Tochter des Prinzen Ferdinand und Nichte Friedrichs II. Als angemessenen Wohnsitz in vornehmster Berliner Gegend erwarben die Radziwiłłs das 1738/39 im italienischen Barockstil errichtete Schulenburgsche Palais in der Wilhelmstraße 77, eines der schönsten Gebäude dieser Straße. Fast acht Jahrzehnte lang trug das Palais die Giebelinschrift »Hôtel de Radziwill«. Nach dem Wiener Kongress wurde er 1815 Fürst Anton und für anderthalb Jahrzehnte Statthalter im Großherzogtum Posen, eine eher repräsentative Funktion.

Es heißt, er sei eine strahlende, ritterliche Gestalt gewesen, ein Mann von hoher Bildung und musikalischer Begabung, und er habe den Charme der polnischen Aristokratie in die eher schlichten preußischen Verhältnisse getragen. Sein Ehrgeiz war es, Hofaristokratie und bürgerliche Geistesaristokratie bei sich zusammenzuführen. So hielt er es mit der Deutschen Tischgesellschaft, in der der literarisch interessierte märkische Adel vorherrschte, ebenso mit der Zelterschen Liedertafel, dem Treffpunkt des sangesfreudigen höheren Bürgertums. Die musikalischen Abende im Hause Radziwiłł sollen von hohem Niveau gewesen sein. Er selbst sang und spielte Violoncello. Beethoven widmete ihm die Ouvertüre op. 115, Chopin die Polonaise op. 3 sowie das Trio g-moll op. 8 für Klavier, Violine und Violoncello.

Fürst Anton komponierte auch. Bekannt machte ihn seine Musik zu Goethes »Faust«, die sein Lebenswerk wurde. 1810 erfuhr Goethe über Zelter von dem Unternehmen. Drei Jahre darauf besuchte Radziwiłł Goethe in Weimar. In seinem Tagebuch findet letzterer begeisterte Worte für die ihm vorgetragene Musik und äußert die vage Hoffnung, dass sein Werk dadurch auf die Bühne gelangen möge. Auf Radziwiłłs Wunsch fügte Goethe seinem »Faust«-Text gar noch einige Zeilen hinzu, sie waren aber ohne Bedeutung und erschienen in späteren »Faust«-Drucken nicht.

Im Februar 1816 wurde im Hause Radziwiłł eine »Faust«-Aufführung am Berliner Hof beschlossen, Initiator soll der Kronprinz gewesen sein. Nach mehrjährigen Proben fand am 24. Mai 1819, dem Geburtstag der Luise von Preußen und Gemahlin des Fürsten Radziwiłł, die erste Aufführung der Faust-Dichtung Teil I im Schloss Monbijou statt, gefolgt von einer Wiederholung am 10. Juni. Am 24. Mai 1820 kam es zu einer erweiterten Aufführung, die am 7. Juni wiederholt wurde. Das Personal bildeten Berufsschauspieler (Pius Alexander Wolff als Faust, Auguste Stich als Gretchen) und vornehme Amateure (Herzog Karl von Mecklenburg-Strelitz als Mephistopheles). Das Bühnenbild schuf Karl Friedrich Schinkel.

Wiederum war es Zelter, der dem zum Ereignis nicht erschienenen Goethe wohlwollenden Bericht erstattete. Bald schon jedoch, 1821, sollte sich Goethe kritisch über so viel »belastende musikalische Beihilfe« für seine Dichtung, die doch ihre eigene Musik in sich trage, äußern. Dennoch: Im folgenden Jahrzehnt komponierte Radziwiłł auch die Musik zum zweiten Teil des »Faust«. Beide Teile des großen Werks von Goethe wurden erstmalig 1835 in der Berliner Singakademie aufgeführt - da waren sowohl Goethe als auch Anton Radziwiłł und Zelter bereits tot.

Radziwiłłs Verdienst, Goethes später weltberühmt gewordenem Werk erstmals auf die Bühne geholfen zu haben, ist kaum noch oder in schwindender Erinnerung. Obwohl der komponierende Fürst maßgeblich dazu beigetragen hat, den »Faust« populär zu machen. Wenige Jahre nach dem Erstdruck des »Faust I« hatte Verleger Cotta kaum 500 Exemplare verkauft.

Fürst Anton Radziwiłł starb 1833, seine Tochter Elise 1834. Das Hôtel de Radziwill in der Wilhelmstraße 77, das ehemalige Schulenburgsche Palais, wurde 1875 vom Deutschen Reich gekauft und zum Wohnsitz des Reichskanzlers Bismarck bestimmt. Als Alte Reichskanzlei beherbergte das Gebäude später noch Hitler, im Zweiten Weltkrieg zerstört, wurde die Ruine bald abgetragen.

Anton Radziwiłł bezeichnete sich, im Unterschied zu einem Berufskünstler, der mit seiner Kunst sein Brot verdienen musste, als einen Dilettanten; heute hieße das wohl Amateur. Seine Begabung und sein Geschmack galten als unbestritten, er komponierte, bedurfte aber bei der Orchestrierung seiner Kompositionen der Hilfe professioneller Musiker wie Georg Abraham Schneider, Bernhard Klein oder Carl Friedrich Rungenhagen.

Die Kritiken auf Radziwiłłs musikalische Umsetzung des »Faust« fielen unterschiedlich aus. Bei Zelter, dem allernächsten Beobachter, mischt sich Lob mit Ironie. Sein Vorwurf betraf vor allem, dass »zu viel ausgedrückt worden (sei), worunter das Auf- und Abwallen und der Fluss der Reden leidet«. Am 11. März 1832, elf Tage vor Goethes Tod, schrieb er: »Der edle Komponist hat sich Jahre hindurch so in das Werk seines Dichters versponnen wie ein Seidenwurm; jeder Faden hält fest. Er hat das Moderne des Gedichts, das im Antiken (ewig Wahren) wohnt, mit heutiger Musik, die auf sich selber hin und her schwankt, geradehin verehelicht; was daraus natürlich geboren werden kann, ist die Eifersucht in höchster Potenz. Eins bringt das andere um, wie der Mohr sein schönes weißes Weib und sich selber. Die Musik an sich ist brav und fein ausgedacht, dass ein gründliches Urteil darüber vielleicht unmöglich ist, und da wir alle nicht wissen, was wir mit Vergnügen singen und spielen, so magst Du Dir Deine Götter, Menschen und Tiere, und was sie sollen und wollen, selber wieder zusammensuchen …« Robert Schumanns heftige Kritik richtete sich weniger gegen die Komposition als vielmehr gegen die Instrumentierung. Heinrich Rellstab wiederum fand die Musik ihrem Charakter nach als »zu wenig deutsch empfunden«, Friedrich Gotthold hingegen meinte, dass »das Werk in der Tat im Geiste deutscher Musik gehalten sei und nur einige Züge den fremdstämmigen Komponisten verrieten«.

Zwei Jahre nach Radziwiłłs Tod, am 26. Oktober 1835, führte die Berliner Singakademie das Werk im Ganzen auf, und der große Erfolg, der sich auch in der Presse spiegelte, führte dazu, dass dieses nun alljährlich auf die Bühne kam. Ebenfalls 1835 erschienen in Berlin, bei Theodor Trautwein, die Partitur der Radziwiłłschen Kompositionen, zudem ein vollständiger Klavierauszug, letzterer außerdem in einer illustrierten Prachtausgabe.

Den Aufführungen in der preußischen Hauptstadt folgten 1837 Aufführungen in Hannover, Leipzig und Danzig (hier mit mindestens acht Wiederholungen in den Folgejahren), 1838 in Halle, 1839 in Königsberg (zwei Mal), 1841 im Lüneburg (stark gekürzt), in Potsdam und in Prag, 1842 in Jena, 1843 in Weimar und 1848 in Coburg. 1880 gar, als bereits die Musik von Richard Wagner das deutsche Musikleben zu dominieren begann, wurde das Werk des polnischen Dilettanten Fürst Anton Heinrich Radziwiłł im Londoner Hyde Park College aufgeführt.

Stanisław Moniuszko, der Schöpfer der polnischen Nationaloper »Halka«, lernte während seiner Studien in Berlin Radziwiłłs »Faust«-Musik kennen und initiierte 1848 die Aufführung von Ausschnitten derselben mit Amateurkräften in Warschau. Und in dem Maße, wie Radziwiłł schon im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts vergessen wurde, besann man sich seiner im 20. Jahrhundert im wiedererstandenen Polen. Die polnische Musikgeschichte erkennt in seinem Werk erste Züge einer polnischen Romantik, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen Publikationen zur Person und zum Werk selbst, der polnische Rundfunk brachte wiederholt eine Gesamtaufnahme in der Bearbeitung von Zbigniew Jachimecki.

Übrigens, in Deutschland besinnt man sich in jüngerer Zeit wieder auf Radziwiłłs Kompositionen zum »Faust«. Am 25. Oktober 2005 wurden sie vom Zelter-Ensemble der Singakademie zu Berlin und dem Staatsorchester Braunschweig unter der Leitung von Joshard Daus im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin erneut zur Aufführung gebracht.

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