- Berlin
- Dokumentation von Rassismus und Antisemitismus in Berlin
Spirale der Diskriminierung
Berliner Register und Dokumentationsstellen erfassen immer mehr Fälle von Rassismus und Antisemitismus
»Ein Schwarzes Kind wird an der Schule von weißen Kindern gemobbt und wendet sich deshalb an Lehrkräfte. Diese raten ihm, das Verhalten zu ignorieren. Setzt sich das Schwarze Kind in der Reaktion dann selbst zur Wehr, findet anschließend eine Täter-Opfer-Umkehr statt.« Nach diesem »immer gleichen« Muster laufe Diskriminierung unter Kindern ab, erklärt Matthias Oberg vom Verein Narud. Das Schwarze Kind stehe nun im Fokus. Er sagt das am Donnerstag bei der Vorstellung des Berichts der Berliner Registerstellen, die stadtweit Vorfälle unterschiedlichster Diskriminierung erfassen.
Die Registerstellen und andere zivilgesellschaftliche Dokumentationsstellen haben für das Jahr 4841 Vorfälle mit extrem rechtem, rassistischem, antisemitischem, LGBTIQ*-feindlichem, sozialchauvinistischem und behindertenfeindlichem Hintergrund erfasst. Im Jahr 2020 waren es 3422.
Die insgesamt um 26 Prozent gestiegene Zahl der Fälle basiert auf mehr antisemitischen Vorfällen (+ 269), rassistischen Diskriminierungen (+ 217) und Propaganda (+ 708). Angriffe machen 6 Prozent der Gesamtzahl aus, strukturelle Benachteiligung 8 Prozent, 15 Prozent sind Beleidigungen und Bedrohungen.
Propaganda ist mit 61 Prozent aller Vorfälle die größte Kategorie (2951).
Knapp ein Drittel der Fälle sind rassistisch motiviert, weitere 31 Prozent sind Verharmlosungen des Nationalsozialismus und rechten Selbstdarstellungen zuzuordnen. Über ein Fünftel der Fälle ist antisemitisch motiviert, andere richten sich gegen politische Gegner*innen, waren LGBTIQ*-feindlich, behindertenfeindlich und sozialchauvinistisch.
Die Zahlen sind auch deswegen höher, weil es 2021 mehr Beratungsstellen, mehr Geld für Öffentlichkeitsarbeit, einfachere Meldewege und eine neue Internetseite gab. clk
»In diesem Zusammenhang äußern sich auch Lehrkräfte rassistisch, sogar offen gegenüber Kindern«, sagt der Politikwissenschaftler. In einem nächsten Schritt würden dann die Eltern des Schwarzen Kindes einbestellt, aber auch diese werden nicht ernst genommen, sondern müssten sich vorwerfen lassen, sie hätten ihre »Kinder nicht im Griff«. Oft werde dann das Jugendamt kontaktiert, was sich in der Regel auf die Seite der Schulen stelle.
»Im Ergebnis schickt man Schwarze Kinder zu Therapeuten, wo sie womöglich ein weiteres Mal Rassismus erfahren, weil man ihnen attestiert, ›zu wild‹ und letztlich ›selbst schuld‹ daran zu sein, wenn sie zu unruhig sind, um nicht lernen zu können.« Am Ende käme es vor, dass Ärzt*innen den Schwarzen Kindern Ritalin verschreiben, so Oberg.
Muna Aikins von der Dokumentations- und Beratungsstelle Each One Teach One (EOTO) wird analytischer in der Beschreibung: »Die Schwarze Erfahrung versammelt mehrere Dimensionen: die Gewalt von Schüler*innen, die Machtposition von Lehrer*innen, die fehlende Unterstützung und Beratung bis hin zur Pathologisierung.« Aikins nennt es »eine Spirale von Gewalt«, in der sich strukturelle und institutionelle Diskriminierung verschränkten: »Kinder können nicht sagen, ich gehe nicht zur Schule. Denn es besteht Schulpflicht.« Sie sind damit dem doppelten Druck der Institution Schule ausgesetzt, in der sich dann struktureller Rassismus widerspiegelt.
Ein bei EOTO angesiedeltes Antidiskriminierungsprojekt dokumentiert für Berlin Vorfälle von anti-Schwarzem Rassismus. 177 Meldungen habe das Projekt im vergangenen Jahr erhalten, sagt Joanna James. Darunter seien Fälle von massiver körperlicher Gewalt, zum Teil durch staatliche Akteure wie Polizei, aber auch durch Kontrolleure und Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten. Auffällig bei den häufig mit Racial Profiling verbundenen Vorfällen: »Schwarze Menschen werden nicht als zu schützende Personen wahrgenommen, sondern als Täter«, so James. Fast ein Viertel der Betroffenen habe aufgrund der Erfahrung Bedarf an psychotherapeutischer Betreuung angegeben. Hieraus ergibt sich für sie ein weiteres Problem: Es mangelt an passenden Angeboten. Auch weil Rassismus nach wie vor systemisch geleugnet werde - diese Erfahrung geben über 90 Prozent der mehr als 4000 Befragten der von EOTO mitinitiierten Studie Afrozensus 2020 an.
Immer mehr Organisationen und Vereine, die bei Diskriminierung beraten, stellen den Registern ihre Vorfallsdaten zur Verfügung. Diese haben zudem 2021 ihre Präsenz in sozialen Netzwerken erhöht. Alle Berliner Register hatten befristet auf ein Jahr mehr Personal und konnten Zeit in Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit investieren. Es ist anzunehmen, dass die höheren Fallzahlen in der Kategorie »Strukturelle Benachteiligung« auf die neuen Quellen zurückzuführen sind. 86 Prozent dieser Fälle haben einen rassistischen Hintergrund. Die Zahlen wachsen also nicht, weil häufiger Vorfälle passieren, sondern weil diese dank der Beratungsstellen und der Betroffenen, die sie melden, sichtbarer werden.
Koordinatorin Kati Becker erklärt, die Vorfallszahlen spiegelten das gesellschaftliche Klima des vergangenen Jahres wider. Sie zeigten außerdem, dass das Netzwerk derjenigen wachse, die sich am Entstehen der Dokumentation beteiligen. »Je mehr wir wissen, desto klarer können wir Probleme benennen. Die Zunahme der antisemitischen und rassistischen Vorfälle zeigt eindrücklich, dass es eine starke, solidarische und vernetzte Zivilgesellschaft braucht, die sich gemeinsam gegen Ausgrenzung und Diskriminierung stellt.« Je einfacher Vorfälle gemeldet werden könnten, desto häufiger geschehe das auch.
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