Tönnies versucht, Not auszunutzen

Deutscher Fleischkonzern erntet heftige Kritik für seine Anwerbeversuche an polnisch-ukrainischer Grenze

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.

Als jemand Patrick Walkowiak sagte, da sei eine Firma, die 72 Geflüchtete nach Deutschland bringen wolle, dachte er zuerst: »Wow, was für eine tolle Aktion!« Der junge Mann von der Flüchtlingshilfsorganisation Friends of Medyka war bis Mittwoch mehrere Wochen in Przemyśl an der polnisch-ukrainischen Grenze, um zu helfen. Das Ziel dabei ist, so viele ukrainische Frauen und Kinder wie möglich von dort weiter Richtung Westen zu bringen. Dass gleich 72 Menschen auf einmal die Weiterreise antreten könnten, wäre ein Glücksfall.

Als ein polnischer Helfer dann Walkowiak die Firmenvertreter vorstellt, wird schnell klar, dass diese im Auftrag des Fleischkonzerns Tönnies agieren. Sie geben dem Flüchtlingshelfer zu verstehen, keine kleinen Kinder oder Älteren mitnehmen zu wollen, sondern nur Menschen, die bei Tönnies auch arbeiten können. Aus einem Schreiben, das die Konzernvertreter Walkowiak aushändigen, wird ersichtlich, zu welch schlechten Konditionen die potenziellen Arbeitskräfte eingestellt werden sollen. Der Aktivist, der als einer der wenigen internationalen Helfer Polnisch spricht, informiert daraufhin die polnischen Beamten über den schlechten Ruf des Familienunternehmens aus Rheda-Wiedenbrück.

»Mir war dann natürlich klar, dass es sich dabei leider doch nicht um ein tolles Hilfsangebot handelte, sondern aus der Not der Geflüchteten Kapital geschlagen werden soll«, sagt Walkowiak ernüchtert. Er beschreibt die Situation an dem Grenzpunkt gegenüber dem »nd« ohnehin als »ein sehr chaotisches Gewusel, in dem jeder irgendwas macht, alles aber total unkoordiniert ist«. Die Kommunikation zwischen den polnischen Grenzbeamten und Helfern und den internationalen Aktivisten sei äußerst schwierig.

Seit vergangenem Samstag ist es in Przemyśl Privatleuten verboten, Geflüchtete von der Grenze wegzutransportieren. Dies ist eine Reaktion auf die von überall berichteten Versuche einzelner Männer oder organisierter Krimineller, ukrainische Frauen unter dem Vorwand der Hilfe und Aufnahme sexuell auszubeuten. Auch die von vielen deutschen Firmen in den ersten beiden Wochen des Krieges gecharterten Busse, mit denen Tausende Geflüchtete vor allem nach Deutschland gebracht werden konnten, werden nun immer weniger, berichten Helfer vor Ort. »Der erste Hype ist vorbei«, konstatiert Walkowiak sarkastisch.

Dass nun ausgerechnet Tönnies vorgibt, in die Bresche zu springen, erzürnt auch die Sprecherin für Fluchtpolitik in der Linksfraktion, Clara Bünger. »Wie tief muss Tönnies moralisch gesunken sein, dass er Mitarbeiter an die polnisch-ukrainische Grenze schickt, nicht etwa, um den Menschen Schutz und Hilfe anzubieten, sondern um ihre Notlage auszunutzen? Die Beschränkung seines Hilfsangebots auf Einzelpersonen, die sich verpflichten, in seinen Fleischfabriken zu schuften, macht sprachlos«, sagt die Politikerin dem »nd«. Ganz unabhängig von der Frage der Unterbringung könne Tönnies stattdessen einfach Menschen mit seinen Bussen nach Deutschland bringen lassen. Dort hätten sie ohnehin das Recht auf eine Unterkunft, erklärt Bünger.

Tönnies kann die Kritik an den Anwerbeversuchen, die der Konzern gegenüber der ARD bereits bestätigte, nicht nachvollziehen. »Wir helfen den Kriegsflüchtlingen vor Ort und bieten ihnen eine Zukunftsperspektive«, so Unternehmenssprecher Fabian Reinkemeier am Mittwoch. Und: »Wir bereichern uns nicht an der Not der Flüchtlinge. Das ist eine völlig irre Aussage. Wir tarnen auch nichts als gute Tat.« Dass keine kleinen Kinder oder Ältere mitgenommen werden sollten, bestätigte der Konzern nicht. Man habe bereits an zwei Standorten in Deutschland vereinzelt Frauen mit Kindern zum Unternehmen geholt, da dort familiengeeignete Unterkünfte auf dem privaten Wohnungsmarkt für diese hätten gefunden werden können.

Als hätte der Konzernchef Clemens Tönnies die aktuellen Anwerbeversuche höchstpersönlich vorbereitet, war er Anfang März mit einem Transport mit Hilfsgütern selbst in Polen und spendete lange haltbare Wurstkonserven an die ukrainischen Geflüchteten. »Clemens Tönnies präsentierte sich in Polen erst kürzlich als wohltätiger Helfer, aber eigentlich geht es ihm allein darum, aus der Not der vor dem Krieg flüchtenden Menschen Profit zu schlagen. Dieses Verhalten ist erbärmlich und höchst unmoralisch«, sagt Bünger dazu und ist nicht überrascht.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -