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Von der Logistik des Mordens
Restauriert auf Youtube: Der »Westerbork-Film« ist eine Täterreportage von 1944 aus einem KZ in den Niederlanden
Vielfach wird an die Opfer des Holocaust auf eine sehr emotionale Weise erinnert, in der Literatur und in Spielfilmen. Doch authentische Dokumente mit großer Beweiskraft gehören unauflösbar zu diesem Erinnern. Dazu zählt auch der »Westerbork-Film« aus dem Jahr 1944, den man sich auf Youtube anschauen kann.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Von Westerbork in der niederländischen Provinz Drenthe wurden im Zweiten Weltkrieg Juden nach Auschwitz und Theresienstadt transportiert, darunter auch Anne Frank und ihre Familie. Der Film ist eine nüchterne Reportage, ein sachlicher Bericht über dieses sogenannte Durchgangslager - er wurde von den Nazis selbst produziert. Er war gedacht als ein Propagandafilm in eigener Sache.
Der jüdische Gefangene Werner Rudolf Breslauer, ein Fotograf und Kameramann aus Leipzig, der mit seiner Familie in die Niederlande geflüchtet war und 1942 nach Westerbork verschleppt wurde, drehte ihn im Auftrag der SS-Lagerleitung, die damit ihre Arbeit dokumentieren wollte. Aus diesem Grund ist es auch kein reiner NS-Propaganda-Film geworden, wie der über Theresienstadt, »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«, aus dem selben Jahr, den mit Kurt Gerron ebenfalls ein jüdischer Regisseur drehen musste. Beide wurden von den Nazis umgebracht.
»Westerbork« zeigt simple Abläufe des Alltags: Reparaturwerkstätten, Arbeiten in der Gärtnerei, eine Zahnstation, ein Fußballspiel, sogar Szenen aus einem Lager-Kabarettprogramm, einen Gottesdienst. Alle Häftlinge tragen zivile Kleidung mit angeheftetem Judenstern.
Besonders signifikant sind die Zusammenstellung, das Rangieren und die Abfahrten von Deportationszügen - es sind die historisch einzigen Filmbilder von Todestransporten, in allen Details: Einsteigen der Inhaftierten in die Güterwaggons und das Gedränge der Einsteigenden mit ihrem Gepäck, das Zuschieben der Türen, das Verschließen, das Aufmalen von Gefangenenzahlen mit Kreide auf die Waggonwände. Winkende und diensthabende deutsche Offiziere auf dem Bahnsteig. Die Bilder weisen nicht das auf, was man heutzutage allgemein von einem Holocaust-Dokument erwartet - den organisierten Mord. Doch diese Szenen des Films bieten Elemente der Mord-Logistik: damit der Holocaust im Machtbereich der Nationalsozialisten »funktionierte«, musste so gearbeitet werden, wie das der Film am Beispiel von Westerbork zeigt.
Es ist ein Täterfilm, ohne NS-Insignien, aber mit dem Judenstern. Legt man die nüchternen Filmbilder mit dem heutigen Wissen über den Holocaust zusammen, so ergeben sich wahrhaftige, dokumentarische Einblicke in die Mechanik der NS-Vernichtungsmaschinerie. Die Brutalität entsteht hier aus der Banalität des Technischen. Der Film kommt ohne propagandistische Einfärbungen aus, was ihn umso bemerkenswerter macht, und er wirkt stärker als jede noch so gut nachinszenierte Szene. Der berühmteste Screenshot aus dem Film - »Mädchen in der Tür eines Güterwagens« - wurde zu einem Symbol des Holocaust: Er zeigt die niederländische Sintiza Settela Steinbach, neun Jahre alt. Das erschütternde Bild ist immer wieder abgebildet und im Laufe der Jahre auch durch viele Dokumentarfilme zu einer Ikone geworden. Sie und ihre Familie wurden in Auschwitz ermordet.
Der Film wurde restauriert und digitalisiert: 90 Minuten, schwarz-weiß, stumm, ohne Zwischentitel (aus dem Restschnittmaterial ist ein Zwischentitel überliefert, der viel aussagt: »Seit Juli 1942, fast zwei Jahre lang, immer wieder das gleiche Bild: Transport«). Der Film wurde auf Zelluloid gedreht. Auf Youtube gibt es auch eine farbige Variante, sie ist vermutlich computergeneriert. Die Farbe nimmt den Aufnahmen die dokumentarische Härte des Originals.
Den Film hat der SS-Obersturmführer Albert Konrad Gemmeker, Kommandant des Sammel- und Transitlagers, im Frühjahr 1944 von Rudolf Breslauer drehen lassen, vor allem wohl als filmischen Ausweis der reibungslosen Organisation der Todesmaschinerie, die unter seiner Verantwortung lief.
Einen solchen Film gibt es nicht noch einmal - er bleibt einmalig. Schon deshalb ist er ein kostbares Dokument. Er wurde mehrfach umgeschnitten (aus nicht aufzuklärenden Gründen). Der Berliner Experimentalfilmer Harun Farocki hat 2007 in seinem Kompilationsfilm »Aufschub - Dokumentarische Szenen aus einem Judendurchgangslager« besonders die Szenen des Beladens und der Zugfahrten auf ihre Bildsprache analysiert.
Heutzutage gehört der Film zur Public Domain, ist also zur allgemeinen Nutzung freigegeben - damit aber auch für Missbrauch zugänglich (siehe die kolorierte Fassung auf Youtube). Kürzlich wurde die historisch authentische Fassung - quasi die Urfassung - hergestellt. Damit wird der Dokumentenwert erheblich erhöht, genauer gesagt: wiederhergestellt.
2017 wurde der Film, der keine Ambivalenzen duldet, von der Unesco zum Weltdokumentenerbe erklärt. Und er kann und muss in die aktuellen Debatten um Komponenten der Erinnerungskultur und ins kollektive Gedächtnis der Deutschen einbezogen werden. Dokumente wie dieser Film bleiben allemal die stärkeren Argumente als die der Literarisierung.
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