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Manche sind gleicher
Unter anderem afghanische, jemenitische und syrische Heimbewohner*innen müssen ihre Unterkünfte für ukrainische Geflüchtete räumen
In einer Sache sind sich alle einig: Die Unterstützung, die Flüchtenden aus der Ukraine aktuell entgegengebracht wird, ist absolut nötig, richtig und wichtig. Es wird ein möglichst unkomplizierter Zugang zu den Nachbarländern ermöglicht und Tausende von Menschen öffnen ihre Türen, um Schutzsuchenden ein Obdach zu bieten.
Dazu dienen internationale Boykotte plötzlich als legitimes Mittel, um Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen entgegenzuwirken; verschiedenste Länder, Organisationen und Unternehmen bekennen Farbe und bekunden öffentlich Solidarität. Doch was genau bedeutet Solidarität eigentlich und wem gilt diese?
Seit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar hat sich gezeigt, wozu Staaten, Politik und Menschen in der Lage sind, wenn sie es für nötig befinden. Es ist keine Frage des Könnens, sondern des Wollens. So zeigt sich aktuell endlich eine Willkommenskultur, die wir in dieser Form bisher nicht erleben durften.
Doch viele Menschen bringen nicht allen Geflüchteten das gleiche Maß an Mitgefühl und Verbundenheit entgegen, sondern unterteilen sie in willkommen und störend. Der eine Konflikt gilt als zugänglich und herzzerreißend, andere sind nun mal zu kompliziert, um relevant genug zu sein. Die einen sind tapfer und fliehen vor Bedrohung, die anderen sind feige und haben es auf deutsche Steuergelder abgesehen. Wer wer sein soll, können wir uns sicherlich denken. Es sind halt immer die anderen, die Probleme bereiten.
Während viele nach wie vor schlicht ignorant sind gegenüber Konflikten, die seit Jahrzehnten überall in der Welt - übrigens auch in Teilen Europas - Menschenleben über Generationen hinweg prägen und zerstören, sprechen sie nun andererseits davon, dass die Opfer von Krieg diesmal so aussehen wie sie, dass es kein verarmtes und fernes Volk treffe (Daniel Hannan, »The Telegraph«). Aktuell sei es ein zivilisiertes Land, das Krieg erlebe und nicht der Irak oder Afghanistan, wo so etwas zu erwarten sei (Charlie D’Agata, CBS News).
Erneut wird deutlich, wie Macht und (weiße) Privilegien die Wahrnehmung verzerren. Krieg wird meist ausschließlich Nicht-Europäern, Nicht-Weißen, Nicht-Christen zugeordnet, was gleichzeitig deutlich macht, wie normal und selbstverständlich er bewertet wird, wenn er »die anderen« betrifft. Ebenso skandalös ist es, beobachten zu müssen, wie auch bürokratisch und logistisch innerhalb der ohnehin marginalisierten Gruppe Geflüchteter unterschieden wird: Unter anderem afghanische, jemenitische und syrische Heimbewohner*innen müssen ihre Unterkünfte räumen und werden in abgelegene Orte verfrachtet, um für jene aus der Ukraine Platz zu schaffen.
Berufsabschlüsse sollen nun möglichst schnell anerkannt werden und der deutsche Arbeitsmarkt soll Menschen aus der Ukraine offenstehen. Dies sei laut Bundesarbeitsminister Heil »eine Frage der Vernunft«. Interessant. Was war es vorher? Mit diesen Diskrepanzen ist es aber nicht getan. Bereits seit der »Krise« 2015 ist klar, dass das Dublin-Verfahren die Realität der Fluchtströme nicht stemmen kann und sowohl Staaten als auch primär Fliehenden den Asylprozess erschwert. Leider konnte sich die EU in den vergangenen sieben Jahren jedoch auf keine bessere Lösung einigen - bis vor kurzem.
Jetzt ist nämlich alles anders. 2001/55/EG - auch die Massenzustrom-Richtlinie genannt - ermöglicht seit dem 4. März 2022 erstmals die koordinierte EU-weite Aufnahme einer großen Zahl von Geflohenen jenseits des individuellen Asylverfahrens und des Dublin-Systems - jedoch leider nur für Menschen aus der Ukraine. Wo aber landen die anderen? Diese verharren in Belgrad, Moria, Samos, Wedrzyn und in Deutschland zwischen bürokratischen Mauern. Während Europa weiterhin konsequent seine Grenzen vor nicht-ukrainischen Schutzsuchenden »schützt« und Millionenbeträge - genau 543 Millionen Euro - in Frontex investiert, um Menschen anstatt Ursachen zu bekämpfen, Familien in Wäldern erfrieren und im Mittelmeer ertrinken zu lassen, ist parallel dazu Solidarität angesagt. Solidarität, die an Bedingungen geknüpft ist: Solidarität mit jenen, die so aussehen, wie ihr es tut. Mit denen, die in euer Bild passen. Egozentrische, eurozentrische, selektive Solidarität - mit allen, die nicht die anderen sind.
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