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Das Geheimnis der Rohstoffpreise

Im Zeitalter des Finanzkapitals haben sich Derivatmärkte zu riesigen Wettanstalten entwickelt

  • Stephan Schulmeister
  • Lesedauer: 6 Min.

Von allen Güterpreisen schwanken jene der Rohstoffe am stärksten. Insgesamt stiegen sie zwischen 2002 und 2008 auf das Vierfache, fielen im Zug der Finanzkrise auf die Hälfte, verdoppelten sich bis 2011 und sanken bis 2016 neuerlich auf die Hälfte. Mit Überwindung des Corona-Einbruchs 2020 verdoppelten sich die Rohstoffpreise bis Ende 2021 neuerlich und sind nach Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine weiter gestiegen. Die Preisinstabilität von Rohstoffen hat enorme Folgen für die globale Entwicklung: Sie erhöht die Unsicherheit und dämpft so insbesondere Realinvestitionen. Sie verschiebt die globale Einkommensverteilung zwischen Produzenten- und Verbraucherländern von Rohstoffen und verringert die Nachfrage im Welthandel, denn die Gewinner steigern ihre Importe nicht so stark, wie die Verlierer sie einschränken.

In diesem Verteilungskampf spielt auch die Instabilität des Dollars eine wesentliche Rolle, da sämtliche Rohstoffpreise in der Leitwährung notieren. So folgten der Aufgabe fester Wechselkurse 1971 zwei massive Dollarabwertungen (1971/73 und 1976/79). Die Exporterlöse der Erdölproduzenten wurden entwertetet. Diese reagierten darauf mit zwei »Ölpreisschocks« (1973 und 1979), welche die ersten globalen Rezessionen der Nachkriegszeit verursachten. In den 1950er und 1960er Jahren hatten hingegen feste Wechselkurse, langfristige Lieferverträge und das Fehlen »schneller« Derivatspekulation viel stabilere Rohstoffpreise ermöglicht als im nachfolgenden Zeitalter des Finanzkapitals.

OXI - Wirtschaft anders denken

Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd.DieWoche« beiliegt. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Schwerpunkt Rohstoffe.

Natürlich kommt die ungeheure Warenansammlung nicht ohne Rohstoffe aus. Selbst die in Binärcodes versteckte Datenware bedarf einer feststofflichen Grundlage in Gestalt digitaler Endgeräte, die wiederum mit Strom betrieben werden, der im besten Fall ein Windrad oder Solarpanel braucht. In der Logik der Sache liegt, dass der Rohstoffhunger eines ausschließlich auf Wachstum setzenden Wirtschaftssystems ebenso stetig wachsen muss. Wo führt uns das hin? Und warum können wir nicht endlos so weitermachen, wie bisher?

Antworten gibt es in der OXI 4/22, die am 8. April 2022 an die Kioske kommt und am 9. April für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exlusiv beiliegt. Mehr über OXI gibt es hier.

Am stärksten schwanken die Preise fossiler Energie und dies erschwert auch die Bekämpfung der Erderwärmung: Damit die nötigen Investitionen zur CO2-Vermeidung getätigt werden, müssten die Investoren erwarten, dass sich fossile Energie in alle Zukunft stetig und überdurchschnittlich verteuert und so die Profitabilität solcher Investitionen sichert. Doch die Preisschwankungen bei Öl, Gas und Kohle verhindern dies. So sind die Treibstoffpreise etwa in Deutschland als Folge sinkender Ölpreise in den vergangenen 15 Jahren drei Mal jeweils um etwa 30 Prozent gesunken, obwohl die Mineralölsteuer einer CO2-Steuer von 180 Euro je Tonne CO2 entspricht.

Warum aber schwanken ausgerechnet die für die Realwirtschaft wichtigsten Güterpreise in einer oft mehrjährigen Abfolge? Die noch immer dominante ökonomische Gleichgewichtstheorie kann dieses Phänomen nicht erklären. Denn sie nimmt an, dass die Preise von physischem Erdöl, Weizen, Kupfer etc. nur durch die sogenannten Fundamentalfaktoren bestimmt werden, also die Determinanten von Angebot und Nachfrage am entsprechenden »Spotmarkt«. Auch die Akteure auf den Derivatmärkten würden ihre Preiserwartungen ausschließlich auf Basis der »fundamentals« bilden. Unter diesen Annahmen dürfte es keine nahezu permanenten Preisschübe geben (»trending«), welche über Jahre in eine Richtung länger dauern als Gegenbewegungen und sich so zu Bullen- bzw. Bärenmärkten akkumulieren.

Dieses auch für alle Aktien-, Anleihen- oder Wechselkurse typische Muster ergibt sich aus der Bedeutung der Rohstoffderivatmärkte. Es fängt schon damit an, dass es keine funktionierenden Weltmärkte für physisches Erdöl, Weizen, Kupfer, Kobalt und ähnliches gibt. Die echten Rohstoffe werden auf dezentralen regionalen Märkten in unterschiedlichen Produktqualitäten gehandelt. Für jeden Rohstofftyp existieren allerdings zentrale Derivatbörsen, auf denen Futures und Optionen bezogen auf bestimmte Rohstofftypen gehandelt werden. Diese Art der Preisbildung gilt für sämtliche wichtigen Rohstoffe: Auf den Derivatmärkten dient ein bestimmter Typ von Kupfer, Weizen, Mais, Reis etc. als standardisiertes »underlying«. Fazit: Die Preise auf den Derivatmärkten bestimmen die Spotpreise und nicht umgekehrt.

Entstanden sind die Terminmärkte bei agrarischen Rohstoffen, damit sich Produzenten und Verbraucher gegen Preisschwankungen absichern können. Farmer versprechen Spekulanten, dass sie ihnen ihren Weizen zu einem bestimmten Preis verkaufen werden, wenn sie ihn dann in Zukunft geerntet haben. Steigt bis dahin der Weizenpreis, macht der Spekulant Gewinn, da er nun Weizen unter Marktpreis kauft. Sinkt der Weizenpreis, hat der Farmer einen sicheren Abnehmer für sein Produkt und macht keine Verluste. Es ist ein Absicherungsgeschäft oder »hedging«.

Vermittelt durch die Börse muss aber nicht unbedingt ein Hedger mit einem Spekulanten handeln, sondern es können auch immer mehr Spekulanten untereinander handeln: Wer mit steigenden Preisen rechnet, kauft Futures (hält eine »long position«). Jene, die das Gegenteil erwarten, verkaufen Futures (»short position«). Und genau das geschah im Zuge der Ausbreitung des Finanzkapitalismus seit den 1970er Jahren auf allen Derivatmärkten, sie haben sich zu riesigen Wettanstalten entwickelt. Dabei stellt die Börse sicher, dass die Einsätze auf steigende und auf fallende Preise gleich hoch sind. Wollen mehr Akteure »long« gehen als »short« – wie jüngst nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine –, dann steigt der Preis so lange, bis beide Positionen wieder ausgeglichen sind. Die Börse selbst spielt dabei nicht mit, sie organisiert nur das Spiel.

Betrachten wir den wichtigsten Rohstoff, Erdöl: Die globale Tagesproduktion liegt bei etwa 90 Millionen Fass. Wenn sämtliche Produzenten und Verbraucher ihre Position absichern würden, bräuchte es Derivattransaktionen im Ausmaß von 180 Millionen »paper barrels«. Tatsächlich ist das tägliche Transaktionsvolumen auf den großen digitalen Rohstoffderivatbörsen zehn- bis zwanzigmal größer. Überdies wird nie symmetrisch abgesichert: Wenn ein Produzent eher einen Preisanstieg erwartet, wird er oder sie nicht oder weniger absichern als im Fall eines erwarteten Rückgangs.

Wie funktioniert Rohstoffspekulation konkret? Nehmen wir einen Erdölfuture als Beispiel. Sein Kontraktwert (»notional value«) entspricht dem Preis von 1.000 Barrel Rohöl, bei einem Ölpreis von 100 US-Dollar also 100.000 US-Dollar. Kauft man einen Future, so muss man eine Sicherstellung (»margin«) hinterlegen, derzeit etwa 10 Prozent. Erwarte ich einen Preisanstieg, so werde ich einen Kontrakt kaufen. Steigt der Ölpreis tatsächlich um 5 Prozent, so habe ich 5.000 US-Dollar gewonnen, der Kontraktwert steigt auf 105.000 US-Dollar, bezogen auf meinen Einsatz von 10.000 US-Dollar also 50 Prozent. Ist der Preis hingegen um 5 Prozent gefallen, so ist die Hälfte der Sicherstellung futsch und man muss nachschießen.

Die dritte Ölkrise droht - Steigende Preise für Benzin, Heizöl und Erdgas führten in der Vergangenheit zu einem Wandel im Kapitalismus.

Diese Zusammenhänge gelten für alle Futures, egal ob sie sich auf Aktienindizes, Staatsanleihen, Wechselkurse oder eben Rohstoffe beziehen. Mit der Erfindung von immer mehr Finanzderivaten seit Beginn der 1980er Jahre hat sich die Spekulation zunächst stärker auf diese konzentriert. Erst im Zuge des gigantischen Rohstoffpreisbooms zwischen 2005 und 2008 haben Banken und Hedgefonds zunehmend auch mit Rohstoffderivaten aller Art spekuliert, ersichtlich an einem massiven Anstieg der Transaktionen.
Die Instabilität der Rohstoffpreise ist somit Ergebnis der (noch) herrschenden finanzkapitalistischen »Spielanordnung«, und kann letztlich nur gemeinsam mit diesem Regime überwunden werden. Für Erdöl, Kohle und Erdgas werden aber schon zuvor regulatorische Maßnahmen gesetzt werden, etwa durch den massiven Ausbau von Speicherkapazitäten, langfristige Lieferverträge zu festen Preisen oder gar die Festlegung von verlässlichen Preispfaden als Grundlage für die nachhaltige Reduktion der drei Hauptverursacher von CO2-Emissionen. Denn die Industrieländer werden mindestens noch drei Jahrzehnte von fossilen Energiequellen abhängen und bestrebt sein, ihre Erpressbarkeit zu mindern, insbesondere durch den forcierten Ausbau erneuerbarer Energien.

Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher und Universitätslektor in Wien.

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