Oh, wie schön ist Rojava

30 Jahre nach Beginn des Bosnien-Krieges haben Linke und Friedensbewegung weiterhin keine Antwort auf Krieg und Völkermord

  • Markus Bickel
  • Lesedauer: 8 Min.

Ich machte gerade meinen Zivildienst, als die Nachrichten von gebrochenen Waffenstillständen nicht abrissen: Vukovar, Dubrovnik, Knin, die Kämpfe in Kroatien nahmen kein Ende. Und am 6. April 1992 begann in Bosnien-Herzegowina der Krieg, der längste in Europa nach 1945. Im Jahr zuvor noch hatten Hunderttausende bundesweit gegen den Zweiten Golfkrieg demonstriert. Die Parole »Kein Blut für Öl« war griffig, und der Feind klar: die USA. Gegen Massaker und Vergewaltigung Tausender Frauen gingen Kriegsgegnerinnen und -gegner kaum auf die Straße - und das, obwohl die Verbrechen nur eine Flugstunde von München entfernt begangen wurden.

In ihrer Haltung zum Krieg in Bosnien folgten Antiimps, Antideutsche und andere radikale Linke einer diffusen Mischung aus Tito-Nostalgie und verqueren orthodoxen Denkmustern: Serbien als historisches Opfer deutschen Großmachtstrebens müsse nun abermals verteidigt, der kroatische Nationalismus bekämpft werden. Dass Slobodan Milosevic und Franjo Tuđman sich längst darauf geeinigt hatten, die multiethnischste und gerade dadurch vielleicht jugoslawischste der sozialistischen Teilrepubliken auf Kosten der bosnischen Muslime unter Serbien und Kroatien aufzuteilen, spielte keine Rolle: Bosnien bleibt der blinde Fleck linker außenpolitischer Analyse nach der Wiedervereinigung

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Auch deshalb stellen bis heute selbst von den Vereinten Nationen mandatierte Bundeswehreinsätze links der Grünen eine rote Linie dar. Und einer Debatte über Flugverbotszonen, Waffenlieferungen oder Luftangriffe, um Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu stoppen, haftet weiter der Ruch des Verrats an: Bellizismus!

In Bezug auf Syrien hat diese deutsche Selbstbezogenheit eine klare Positionierung gegen die von Baschar al-Assad seit 2011 begangenen Verbrechen verhindert. Am Horizont der meisten radikalen Linken tauchte der Krieg in Syrien erst auf, als die Verbündeten der Kurdischen Arbeiterpartei PKK im Norden des Landes eine autonome Entität namens Rojava ausriefen - geduldet von Assads Sicherheitskräften, kontrolliert von den syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG. Dass das über Monate von der Terrororganisation Islamischer Staat belagerte Kobane 2014 ohne massive Luftschläge amerikanischer Kampfflieger und Waffenlieferungen gefallen wäre, wird der Revolutionsromantik zuliebe verschwiegen: Oh, wie schön ist Rojava!

Deutschlands Vergehen auf dem Balkan wird in diesen Kreisen meist auf den Nato-Luftkrieg gegen Ziele in Serbien und im Kosovo zwischen März und Juni 1999 reduziert - und auf die Rolle, die der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1991 bei der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens einnahm: Die von der Bundesregierung unterstützten Unabhängigkeitserklärungen der beiden Republiken hätten letztlich zur Zerschlagung Jugoslawiens geführt, nicht gesellschaftliche und politische Entwicklungen vor Ort, die sich nach dem Tod Titos 1980 vom Kosovo im Süden bis nach Slowenien im Norden Jugoslawiens nationalistisch entluden.

Diese in linken Blättern wie der »Jungen Welt« und »Konkret« verbreitete Leseart wurde vielleicht am prominentesten von Jürgen Elsässer vertreten, der heute Chefredakteur des rechtsextremen »Compact«-Magazins ist. 2003 bezifferte er die Opferzahl des Genozids an mehr als 8000 Musliminnen und Muslimen im Juli 1995, die meisten von ihnen Jugendliche und Männer, auf 1500; ein Jahr später schrieb er in der »Jungen Welt« vom »Srebrenica-Mythos«. Erich Rathfelder hat diesen Geschichtsrevisionismus in der taz zurecht kritisiert - und früh erkannt, dass Jugoslawien den nach dem Mauerfall um ihr verlorenes Weltbild trauernden Schreibtischstrategen vor allem als Projektionsfläche diente.

Vielleicht auch deshalb stellt der 6. April 1992 selbst in der offiziellen europäischen Geschichtsschreibung keine Zäsur dar, und das, obwohl er den Beginn des längsten Kriegs nach 1945 markiert, allein die Belagerung Sarajevos dauerte 1425 Tage. »Ethnische Säuberungen« lautete bald der Euphemismus für Massaker und Vertreibung aus den mehrheitlich muslimischen Gemeinden entlang der Drina; die Vergewaltigung Tausender Frauen avancierte zum Mittel der Kriegsführung. Der Historiker Edin Hajdarpašić erklärt es so: »Wenn die Geschichte Bosniens der 1990er Jahre unterrichtet wird, dann in Kursen über Genozid und Gewalt, nur äußerst selten in Kursen zu europäischer Geschichte.«

Dass die westliche Militärallianz erst drei Jahre nach den Berichten über die serbischen Internierungslager in Omarska, Keraterm, Trnopolje und Manjača militärisch intervenierte, um Milosevic und Karadzic zum Einlenken zu bewegen, hat in Bosnien bis heute niemand vergessen. Nato steht in Tuzla, Zenica und Sarajevo auch drei Jahrzehnte nach Kriegsbeginn für: No Action, Talks Only. 100 000 Tote und ein geteiltes Land, das die bosnisch-serbischen Aggressoren belohnte, sind das Ergebnis: 51 Prozent des Territoriums wurden im Friedensvertrag von Dayton 1995 der Republika Srpska zugeschlagen, jener auf Massenvertreibungen und Völkermord basierenden Entität, die Karadzic im März 1992 für unabhängig erklärte.

Und wie am Vorabend des Kriegs sind es auch jetzt wieder serbische und kroatische Nationalisten, die eine Teilung des Landes ins Gespräch bringen - bestärkt durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die Neuauflage großserbischer Pläne geht mit der Leugnung des Genozids von Srebrenica einher. In Belgrad und der Hauptstadt der Republika Srpksa, Banja Luka, wird der vom UN-Jugoslawien-Tribunal in Den Haag unter anderem wegen des Genozids in Srebrenica zu lebenslanger Haft verurteilte Ratko Mladić als Volksheld verehrt.

Und Europa schaut wie 1992 zu, obwohl die internationale Gemeinschaft mit dem Hohen Repräsentanten in Sarajevo einen Statthalter hat mit der Macht, Sezessionstendenzen zu stoppen. Doch das tut sie nicht. Christian Schwarz-Schilling, der das Amt zwei Jahre inne hatte, warnte schon 2021: »Das Land steht vor einem neuen Krieg, wenn die verantwortungslose Appeasement-Politik fortgesetzt wird.«

Der Historiker Hajdarpašić verweist zudem auf einen syrischen Kritiker der westlichen Linken im Angesicht von Völkermord und Krieg: Yassin Al-Haj Saleh, der unter Hafiz al-Assad von 1980 bis 1996 im Gefängnis saß. »Selektive Solidarität« wirft der 1961 in Raqqa geborene Schriftsteller ihr vor, in Jugoslawien wie später im Irak, in Libyen und Syrien. »Im Namen von Solidarität, Gerechtigkeit und Humanität« werde den Menschen vor Ort so immer wieder von Linken im Westen ihre Handlungsfähigkeit abgesprochen.

Al-Haj Saleh, der 2013 vor Assads Schergen und islamistischen Milizen aus Syrien floh, lebt heute in Berlin. Nach der Befreiung seiner Heimatstadt Raqqa vom Islamischen Staat 2017 nahm er dort an einer Diskussion teil, auf der er neben der deutschen Moderatorin und zwei türkischen Kurden der einzige Syrer war. Doch von der Rolle der Bewohnerinnen und Bewohner Raqqas bei der Befreiung der Stadt vom IS wollte niemand etwas wissen. »Nichts über den Kampf eines jeden von ihnen gegen Assads Herrschaft, nichts über diejenigen, die vom IS inhaftiert wurden. Keine Namen, keine Bilder, keine Geschichten, keine Historie.«

Für ihn persönlich sei das »eine traumatisierende Situation« gewesen, schreibt Al-Haj Saleh in seinem Essay »Kritik der Solidarität«: »Ich fand mich unsichtbar, nicht existent, an einem Ort, an dem zwei Fremde, die meine Stadt oder mein Land nicht kannten, ihre Monologe über die Befreiung und sogar über den Kampf gegen den Imperialismus wiederholten. Ich war der stimmlose Arme, und der Rahmen der Versammlung brachte meine Stimme weiter zum Schweigen.«

Ein ähnliches Entsetzen, in Bezug auf die Ukraine, beschreibt der Soziologe Volodymyr Artiukh in seinem »Brief an die westliche Linke aus Kiew«, verfasst kurz nach Beginn der russischen Invasion. Die Linke im Westen tue wieder einmal das, »was sie seit jeher am besten kann: Sie untersucht den amerikanischen Neo-Imperialismus und die Expansion der Nato.« Doch das reiche nicht mehr aus, »weil es die Welt nicht erklären kann, die aus den Ruinen des Donbass und des Hauptplatzes von Charkiw entsteht.« Artiukhs Urteil ist vernichtend: »Die meisten Einschätzungen von Linken lagen grotesk daneben und waren viel weniger zutreffend als die der bürgerlichen Medien. Sie entbehrten jeder Voraussagekraft.«

Artiukh beschreibt ein wiederkehrendes Muster, das ungetrübt bleibt von den Verbrechen von Srebrenica, Aleppo oder Mariupol. Es kommt mit vertrauten Schlagworten daher, die die eigenen Reihen zusammenhalten, dabei aber nicht partnerschaftlich-solidarisches Handeln stärken, sondern eine weltfremde Weltanschauung. Al-Haj Saleh erklärt »diese merkwürdige Situation« dadurch, »dass die meisten derjenigen, die sich im imperialen Zentrum als Antiimperialisten definieren, dazu neigen, unseren Kampf mit einem Plan für Regime Change zu verbinden, den sie der amerikanischen Regierung zuschreiben. Aber eigentlich war Regime Change in Syrien unsere eigene Initiative als Syrer, wir waren diejenigen, die das barbarische Regime stürzen wollten, und dies geschah in einem sehr bekannten Kontext: dem Arabischen Frühling. Wissen sie das? Vielleicht wissen sie es, aber es ist schwer für sie, unser politisches Handeln anzuerkennen, dass wir Revolutionen haben können und nach Freiheit und Gleichheit streben.«

In Bosnien ging es vor dreißig Jahren nicht um Revolution, sondern ums blanke Überleben. Deshalb forderten Bosnierinnen und Bosnier Schutz - von den Vereinten Nationen, von der Nato, von wem auch immer. Schutz, den die internationale Gemeinschaft ihnen nicht gewährte. Die Lehre daraus ist klar: 2022 muss die Europäische Union die Nationalisten und Separatisten in und um Bosnien-Herzegowina herum stoppen helfen, ehe sie wieder Axt anlegen können an die multiethnische Verfassungsordnung des Staates. Eine Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und klare Signale an den Beitrittskandidaten Serbien wären dafür erste Schritte. Appeasement jedenfalls kann keine Option sein.

Markus Bickel hat 1996/97 in der »Jungen Welt« veröffentlicht und in den 2000ern in »Konkret«. Von 1997 bis 2002 war er Redakteur der »Jungle World«, von 2002 bis 2005 lebte er als freier Journalist in Sarajevo. Heute leitet er das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Anmerkung der Redaktion: Der Text war wegen einer presserechtlichen Prüfung kurz offline.

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