Göttlichen Beistand vor Nöten?

Daniel Furrer über Pest, Cholera, Pocken, Corona und Sündenböcke

  • Ulrich Schneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach zwei Jahren Pandemie in allen Teilen der Welt verstärkt sich das Interesse auch an historischen Perspektiven auf medizinische Seuchen, die die Menschheit heimgesucht hatten. Bis 2019 war zum Beispiel die »Spanische Grippe« nur ein Thema für medizinhistorische Forschungen, manchmal für sozialgeschichtliche Betrachtungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Europa, aber keinesfalls im öffentlichen Bewusstsein. Das änderte sich mit der Corona-Pandemie schlagartig.

Daniel Furrer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Zürich, legt eine Geschichte von Seuchen am Beispiel der Schweiz vor, beginnend mit der Pest im 14. Jahrhundert und endend mit der »Spanischen Grippe«. Den Titel seines historischen Querschnitts fand er in einem Gebet aus der Frühen Neuzeit. Damit baten die Menschen um göttlichen Beistand vor den Nöten, die ihre Existenz am meisten bedrohten. Der Autor schlägt einen weiten Bogen über die verschiedenen Infektionskrankheiten, die zum Zeitpunkt ihres ersten Auftretens in aller Regel viele Tausend Opfer unter der Bevölkerung hervorriefen. Er betrachtet in verschiedenen Kapiteln die in der Schweiz auftretenden Infektionskrankheiten Pest, Lepra, Typhus, Cholera, Pocken, TBC, Geschlechtskrankheiten sowie die »Spanische Grippe«.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Heute wissen wir, dass viele dieser Massenerkrankungen ihre Ursachen in den unzureichenden hygienischen Lebensumständen hatten, die einerseits Ausdruck der zunehmenden Verstädterung und gleichzeitig der katastrophalen Lebensverhältnisse der ärmeren Bevölkerungsschichten waren. Das bedeutete nicht, dass die wohlhabenderen Teile der Bevölkerung vor einer Ansteckung geschützt waren oder, wenn sie infiziert wurden, aufgrund der fehlenden medizinischen Gegenmittel ebenfalls starben, wie er am Beispiel der Pocken zeigt. Hiergegen gab es schon Ende des 18. Jahrhunderts die ersten Massenimpfungen.

Wie - nicht nur in der Schweiz - Massenerkrankungen gesellschaftlich missbraucht wurden, zeigt der Autor an den Pogromen gegen jüdische Menschen im 14. Jahrhundert, denen die »Schuld« an der Pest zugeschrieben wurde. Die Stigmatisierung von Juden als »Sündenböcke« für die diversen Schlechtigkeiten der Welt wurde auch bei solchen Pandemien funktionalisiert. Interessant ist die an den verschiedenen Krankheiten und ihrer Verbreitung sichtbare Erhöhung der Mobilität in Mitteleuropa zwischen den Staaten, die nicht allein dem zunehmenden Handel geschuldet war. Im Unterschied zur Corona-Pandemie, die sich Anfang 2020 innerhalb von Wochen über den gesamten Kontinent verbreitete, vollzog sich in früheren Jahren die Ausbreitung in Monaten, teils in Jahren. Aber die Strukturen waren durchaus vergleichbar.

Insbesondere bezogen auf die »Spanische Grippe« folgt der Autor der Bezeichnung »Schwester des Krieges«, wurde sie doch seit 1918 auf den französischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges an alle beteiligten Nationalen »verteilt«. Die weitere Ausbreitung über den Globus war direkt verbunden mit der Rückkehr der Soldaten in ihre unterschiedlichen Heimatländer, wo sie unter der indigenen Bevölkerung oft schwerwiegende Folgen hatte. Da Schweizer Soldaten nicht in den Schützengräben lagen, erreichte die Pandemie dieses Land mit einer gewissen Verzögerung, dennoch gab es auch hier in den Jahren 1918/19 allein 25 000 Tote, zumeist Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren.

Zum Abschluss fragt Daniel Furrer zu Recht, ob man aus der Seuchengeschichte lernen könne. Der menschliche Körper sei doch immer durch Mikroorganismen bedroht worden und konnte nur zu häufig diesen nichts entgegensetzen, wobei nicht übersehen werden dürfe, dass in der Geschichte die Frage Gesundheit beziehungsweise Krankheit unterschiedlich definiert worden sei. Medizingeschichte sei daher im Kern immer auch Gesellschaftsgeschichte.

Daniel Furrer: »Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr«. Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz. 272 S., NZZ Libro, 272 S., geb., 34 €.

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