- Berlin
- Rassistische Gewerbekontrollen
Nach Hanau war es kurz still
Migrantische Gewerbetreibende in Berlin geraten wieder in den Fokus von Polizeieinsätzen
Das Problem wird nicht kleiner, sondern größer. Es sei nur scheinbar ruhig geworden um die als rassistisch kritisierten Gewerbekontrollen im Bezirk Neukölln, sagt Melly zu »nd«. »Nach Hanau war es kurz still und es gab viele Entschuldigungen«, erklärt die junge Aktivistin, die ihren vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Angesichts des rechtsterroristischen Mordanschlags auf neun Hanauer*innen mit migrantischer Geschichte in einer Shisha-Bar hatte man sich auch in Berlin betroffen gezeigt und Diskussionen über die gesellschaftliche Stigmatisierung von migrantischen Geschäften geführt.
»Mit den Shisha-Bars hat es angefangen, mittlerweile werden Friseurläden, Spätis, sogar Bäckereien kontrolliert. Zuletzt wurde eine Baklava-Bäckerei im Richardkiez geschlossen, weil dort niemand arbeitete, der eine in Deutschland zertifizierte Meisterprüfung als Bäcker vorweisen konnte. Wofür braucht man in einer Baklava-Bäckerei einen deutschen Meisterbrief?«, fragt Melly.
Bevölkerung wird verdächtigt
Seit Jahren ist die junge Neuköllnerin aktiv im Zusammenhang mit sogenannten Verbundeinsätzen: Gewerbekontrollen des Ordnungsamts in Polizeibegleitung. Im Zuge angeblicher Kriminalitätsbekämpfung haben die als Razzien wahrgenommenen Durchsuchungen in manchen Bezirken den Charakter genereller Verdächtigung ganzer Berliner Bevölkerungsgruppen angenommen.
Mit dem Beginn der Pandemie vor über zwei Jahren gab es mit den Corona-Auflagen neue Gründe für Kontrollen. »Es hat den Anschein, als suche man immer neue Anlässe«, sagt Melly. In der beliebten Neuköllner Pizzeria, in der sie nebenberuflich arbeitet, habe es sich die Polizei demnach nicht nehmen lassen, mit mehr Beamt*innen in den Laden zu kommen, als Gäste vor Ort waren. »Was in anderen Bereichen ein Skandal wäre, wird im Fall von Migrant*innen normalisiert.«
Nicht nur, dass es als vollkommen hinnehmbar gelte, dass Gewerbekontrollen stattfinden, bei denen sich neben Mitarbeiter*innen des Ordnungsamtes in manchen Fällen bis zu 70 Polizist*innen mit Hunden und zum Teil mit Maschinengewehr in enge Gasträume drängen, ärgert die Aktivistin. Es würden auch Filmaufnahmen gemacht, Gäste über Stunden daran gehindert, die Toilette zu benutzen. Das habe sie selbst erlebt, sagt die 30-Jährige.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen engagiert sie sich für ein anderes Vorgehen. »Ich bin für Gewerbekontrollen, auch weil ich in der Gastronomie arbeite. Und wenn ich in eine Shisha-Bar gehe, dann will ich auch keinen gestreckten Tabak rauchen.« Aber warum die Kontrollen in dieser Form stattfinden würden, fragen sich viele Betroffene. Zumal anderen Geschäften die Behandlung erspart bleibe. »Ich sehe nicht, dass Orte, die man eindeutig als Ergebnis der krassen Gentrifizierung betrachten muss, ähnlich kontrolliert werden«, meint Melly.
Existenzbedrohende Konsequenzen
»Ich spreche mit vielen Betroffenen, manche rufen mich während solcher Kontrollen an und fragen: Was passiert hier? Warum machen die das? Wollen die meine Existenz zerstören?«, berichtet sie. Dass dies bisweilen geschieht, ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur bleiben bei den Kontrollen häufig von der Polizei undokumentierte Schäden zurück, für deren Beseitigung die Geschäftsleute aufkommen müssen. Von bis zu 4000 Euro ist die Rede. In manchen Läden blieben auch Stammgäste weg. Sie kommen entweder nicht mehr, weil sie die Schikanen der alle paar Wochen stattfindenden Kontrollen nicht mehr erleben wollen, oder auch, weil sie überlegen, ob der Betreiber vielleicht wirklich Dreck am Stecken hat. Für diese Art von Rufschädigung kommt niemand auf. Für die existenziellen Konsequenzen, zum Beispiel eine Geschäftsschließung, auch nicht.
Ähnlich war es der Neuköllner Begegnungsstätte der Dar-Al-Salam-Moschee in der Flughafenstraße ergangen. Wegen des Verdachts auf Betrug mit Corona-Hilfen gab es Durchsuchungen und Ermittlungen, die sich im Nachhinein als haltlos herausstellten. Eine Entschuldigung gab es nicht. Man frage sich, ob das migrantische Gewerbe verdrängt werden solle, meint Melly. Das Phänomen breite sich aus - auch in Schöneberg, Reinickendorf, selbst in Charlottenburg würden die Kontrollen verschärft. Der Vorwurf, sie verteidige Kriminelle, träfe sie oft, aber wenn sie erkläre, welche Vorwürfe sich bewahrheiten, änderten viele auch ihre Meinung. Denn mit organisierter Kriminalität hätten Verkehrsdelikte und geringe Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz nichts zu tun.
Die Bilder, die in der Öffentlichkeit kursieren, stellten ein riesiges Problem dar, erklärt die Neuköllnerin. Dazu trügen auch Lokalpolitiker*innen bei. Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) sei ein gutes Beispiel dafür. »Sich in TV-Dokus mit schusssicherer Weste bei Gewerbekontrollen als Kämpfer gegen die organisierte Kriminalität zu inszenieren«, sei »lächerlich«. Auf der anderen Seite setzt sich Hikel in Imagefilmen oder im Wahlkampf auch gern als Politiker für alle ins Licht und lässt sich mit Migrant*innen filmen und fotografieren. »Das kann ich nicht ernst nehmen«, meint die Aktivistin. Hikel treibe den rassistischen Diskurs voran. »Er präsentiert sich als Retter der Sonnenallee, aber trifft Aussagen über arabische Großfamilien, die zeigen, welche Doppelmoral hinter seinem Auftreten steckt.«
Offener Brief von Gewerbetreibenden
Mellys Bürgeranfragen in der Bezirksverordnetenversammlung seien unbeantwortet geblieben, sagt sie. Auch auf einen im März veröffentlichten Offenen Brief von Gewerbetreibenden, der »nd« vorliegt, habe Hikel bisher nicht reagiert, sagt sie. »Wir haben Verständnis dafür, dass Gewerbe kontrolliert und Regeln überprüft werden. Aber wir möchten nicht vorverurteilt und ohne Beweise als Kriminelle dargestellt werden«, heißt es darin. »Wir erwarten, dass unsere Gäste von Polizei und Ordnungsbehörden wie alle anderen Menschen behandelt werden - mit Fairness und Respekt. Ermitteln Sie gerne gegen Kriminalität, bringen Sie Straftäter vor Gericht. Aber verdächtigen Sie dafür nicht die migrantischen Läden eines ganzen Stadtteils.«
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