- Berlin
- Geschichte der Gewerkschaften
»Eine waschechte Kreuzbergerin«
Paula Thiede, Gewerkschafterin und Buchdruckerin um 1900
Als die gewerkschaftlich organisierten Buchdrucker*innen 1894 den Neun-Stundentag durchsetzen, ist eine Kreuzbergerin vorne mit dabei. Ihr Name: Paula Thiede. Ein paar Jahre später wird sie den Verband der Graphischen Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands gründen und als erste Frau eine reichsweite Gewerkschaft führen.
»Erst dachte ich: No way! Eine Biografie aus dem Kaiserreich ist überhaupt nicht meine Baustelle. Nach zwei Wochen war ich dann aber total begeistert, wie spannend das Thema ist«, berichtet Uwe Fuhrmann im Gespräch mit »nd«. Der Historiker beschäftigt sich mit Gewerkschaftsgeschichte und wurde von Verdi beauftragt, zu der Gewerkschafterin Paula Thiede zu forschen. Der Sitz der Verdi-Bundesverwaltung liegt am Paula-Thiede-Ufer 10 in Berlin.
Fuhrmann hielt am vergangenen Donnerstag in den Räumlichkeiten des Friedrichshain-Kreuzberg Museums einen Vortrag über das Leben einer »waschechten Kreuzbergerin«, wie er sie bezeichnet. In seinen Ausführungen ging er auch auf die damaligen Lebensumstände und auf die Schwierigkeiten ein, vor denen die heutige Forschung zu den Biografien von Frauen aus dem proletarischen Milieu steht. Damals habe es eine generelle Geringschätzung für weibliche Erfolge gegeben.
Pauline Philippine Auguste Berlin wurde 1870 geboren und wuchs als Tochter eines Schreiners am Kreuzberger Belle-Alliance-Platz, dem heutigen Mehringplatz, auf. Das Viertel wurde aufgrund der vielen ansässigen Verlage als Zeitungsviertel bezeichnet. Auch die 1876 gegründete SPD-Zeitung »Vorwärts« hatte hier ihren Sitz. So war das Viertel geprägt von einer hohen Informationsdichte. »Manche Zeitungen erschienen drei bis vier Mal pro Tag«, berichtete Fuhrmann.
Als Thiede 14 Jahre alt war, begann sie als Bogenanlegerin in einer Buchdruckerei zu arbeiten. Fuhrmann zeigte ein Video aus einem Museum in Leipzig. In dem ist zu sehen, wie Papierbögen in eine Schnellpresse eingelegt werden. Fotos aus dem damaligen Druckereigewerbe zeigen, in der Branche herrschten klare Geschlechterverhältnisse.
Der Beruf der Buchdrucker war nicht ungefährlich. Die Reinigung der Platten ging mit dem Kontakt mit diversen Chemikalien und Giftstoffen einher. »Weniger als die Hälfte der Buchdrucker erlebte ihren 40. Geburtstag«, erklärte Fuhrmann.
Trockenwohnerin in Kreuzberg
Thiede heiratete 1889 den Schriftsetzer Richard Fehlberg und bekam eine Tochter namens Emma. Ein weiteres Kind, das aus dieser Ehe hervorging, starb früh, ebenso ihr erster Ehemann Fehlberg mit 30 Jahren. Zu dieser Zeit lebte Thiede als Trockenwohnerin in einer Wohnung in der Nähe des Brandenburger Tors. Als Trockenwohner bezeichnete man Menschen, die in neu errichteten Wohngebäuden wohnten, deren Wände noch nicht vollständig trocken waren. Dies war für die Mieter*innen zwar deutlich günstiger als eine normale Wohnung, ging aber mit erheblichen gesundheitlichen Risiken einher.
»Sie kann getrost zu den Ärmsten der Armen gezählt werden«, kommentierte Fuhrmann diesen Lebensabschnitt Thiedes. Im Jahr 1891 zog sie zurück nach Kreuzberg und arbeitete wieder in der Druckerei. Im Oktober desselben Jahres kam es dann zu einem der größten Streiks im deutschen Kaiserreich: Die Buchdrucker kämpften für den Neun-Stunden Tag. Im November legten rund 12 000 von ihnen ihre Arbeit nieder.
Als Frau in der Gewerkschaft
Thiede schloss sich dem Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen an und übernahm hier wichtige Aufgaben. Der Verein gilt als eine der ersten gewerkschaftlichen Frauenorganisationen weltweit. Nachdem der Streik fehlgeschlagen war, brach der Verein zusammen.
1896 folgte der nächste große Streik im Buchdruckergewerbe, der zugunsten der Arbeiter*innen mit dem erkämpften Neun-Stunden Tag endete. 1898 war Thiede Mitgründerin und bis 1901 auch Vorsitzende der gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft Verband der Graphischen Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands, die von da an stetig wuchs.
Die wenigen Bilder, auf denen Paula Thiede selbst zu sehen ist, zeigen sie inmitten von weiteren Gewerkschaftsmitgliedern – zum Beispiel auf dem internationalen sozialistischen Frauenkongress in Stuttgart im Jahr 1907. Im Jahr 1910, als im Kopenhagener Ungdomhuset der 8. März als Internationaler Frauentag ausgerufen wurde, gehörte sie zu den Delegierten der Konferenz. Thiede setzte sich zudem für das Frauenwahlrecht ein.
Im März 1919 starb sie nach schwerer Krankheit. Aufgrund von Generalstreik und Straßenkämpfen fanden sich nur sehr wenige Menschen bei ihrer Beerdigung ein. Sie wurde auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.
Uwe Fuhrmann hat auch eine Biografie über Paula Thiede geschrieben: »Frau Berlin – Paula Thiede (1870 – 1919) – Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden«. Ergänzt wurde der Vortrag durch zeitgenössische Postkartenbilder der Ausstellung »Aus der Zeit – eine Kreuzberger Postkartensammlung, 1890 – 1945«. Diese ist noch bis zum 11. Mai im Friedrichshain-Kreuzberg-Museum oder digital zu besichtigen.
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