• Politik
  • Aufgabe der Bündnisfreiheit

Helsinki im Sog der Nato

Finnland vollzieht einen sicherheitspolitischen Schwenk und steht vor einem Beitritt zum Nordatlantikpakt

  • Robert Stark, Helsinki
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Ukraine-Krieg führt auch im Norden Europas zu heftigen politischen Erschütterungen. Am Mittwoch war Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin zu Gast in Stockholm bei ihrer schwedischen Amtskollegin Magdalena Andersson. Die beiden Sozialdemokratinnen diskutierten die europäische Sicherheitsarchitektur und die Notwendigkeit von Veränderungen. Im Zentrum dürfte der wahrscheinliche Nato-Beitritt der bislang bündnisfreien Länder gestanden haben. Nach Einschätzung vieler Experten wäre es taktisch klüger, wenn beide Länder ihr Beitrittsersuchen gleichzeitig einreichen würden. Schon am Dienstag hatte Marin gegenüber der Boulevardzeitung »Iltalehti« erklärt, dass eine Entscheidung zum Nato-Beitritt in den nächsten Wochen fallen werde.

Nach einer letzten Umfrage des Privatsenders MTV unterstützen mittlerweile 68 Prozent der Finnen einen solchen Nato-Beitritt. Besonders erpicht auf einen Anschluss an das Nordatlantische Militärbündnis sind Männer (76 Prozent) und generell Menschen in der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre (77 Prozent). Die öffentliche Meinung ist mittlerweile so eindeutig, dass die konservative Oppositionspartei Kokoomus in Umfragen Rekordzustimmungswerte erhält. Kokoomus war eine der ersten Parteien, die sich für einen Nato-Beitritt ausgesprochen hatte, und profitiert nun von dieser Orientierung.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Die Haltung der linken Partei Vasemmistoliitto ist bisher noch nicht klar sichtbar. Das Linksbündnis ist historisch der stärkste Gegner eines Nato-Beitritts. Dass ein solcher allerdings einen Austritt aus der Regierungskoalition zur Folge hätte, scheint in der neuen Lage eher unwahrscheinlich.

Ende März berichtete Linksbündnis-Parteivorsitzende Li Andersson in einem Interview mit der Boulevardzeitung »Ilta-Sanomat«, dass auf einer Parteivorstandssitzung die Meinungen geteilt gewesen seien. Ein Teil des Vorstandes halte einen Nato-Beitritt Finnlands für grundfalsch, ein anderer habe jedes Vertrauen in Russland verloren und bejahe einen möglichen Beitritt. Ihren eigenen Standpunkt hat Andersson noch nicht öffentlich gemacht. Am Dienstagnachmittag hatte mit Suldaan Said Ahmed ein erster linker Abgeordneter des finnischen Parlaments öffentlich seine Unterstützung für einen Nato-Beitritt erklärt.

Ein förmliches Beitrittsersuchen wird noch vor Mittsommer erwartet, also vor dem 21. Juni. In der öffentlichen Diskussion wird ein Zeitfenster für einen solchen Schritt gesehen, solange Russlands Aufmerksamkeit auf den Krieg gegen die Ukraine gerichtet ist.

Obwohl die Drohung des Europa-Referenten im russischen Außenministerium, Sergei Beljajew, ein Beitritt der nordischen Länder hätte »ernsthafte militärische und politische Konsequenzen«, in Helsinki für keine große Aufregung sorgte, ist die Anspannung in der Bevölkerung spürbar. Seit Wochen verzeichnen zum Beispiel Elektronikgeschäfte Rekordumsätze bei batteriebetriebenen Radios. Diese gehören ebenso wie Konserven, Medikamente und Taschenlampen zu einer nützlichen Ausstattung von Privathaushalten bei Katastrophen. Und Finnlands Mitte-links-Regierung hat mit Haushaltsbeschlüssen in der vergangenen Woche 2 Milliarden Euro zusätzlich für Militär und Grenzschutz bereitgestellt.

Die Entscheidung für den teuersten Waffenkauf in der finnischen Geschichte war bereits im zurückliegenden Dezember gefallen. Für umgerechnet mehr als 10 Milliarden Euro werden US-amerikanische Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeuge vom Typ F-35 angeschafft. Der gesamte Staatshaushalt Finnlands beträgt pro Jahr ungefähr 65 Milliarden Euro. Das finnische Verteidigungsministerium hat beim Hersteller Lockheed Martin 65 Maschinen bestellt, die in diesem Jahrzehnt ausgeliefert werden sollen.

Am vergangenen Freitag reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Helsinki, wo er gemeinsam mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö im Parlament einer Video-Ansprache des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj beiwohnte. Steinmeier erklärte anschließend vorsichtig, dass Deutschland jede Entscheidung der finnischen Sicherheitspolitik unterstützen werde.

Zeitgleich zu Selenskyjs Rede wurden Hackerangriffe auf die Homepages des finnischen Außen- und des Verteidigungsministeriums registriert, die kurzzeitig nicht erreichbar waren. Am Morgen desselben Tages verletzten russische Flugzeuge nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Helsinki für etwa drei Minuten den finnischen Luftraum - der erste Vorfall dieser Art seit dem Sommer 2020.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!