Es geht nicht ohne politische Lösung

Um den Krieg in der Ukraine zu befrieden, bedarf es einer Stärkung des Völkerrechts, meint Ramon Schack.

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 4 Min.

EU-Chef-Diplomat Josep Borrell sprach sich bei einem Besuch in Kiew zuletzt für eine militärische Lösung des Ukraine-Konflikts aus. Ungewöhnlich genug für einen Diplomaten. Ungewöhnlich aber auch für eine EU, die sich über Jahrzehnte als »Friedensprojekt« definierte, dafür sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Borrells Äußerungen sind daher eine Zäsur von dramatischem Ausmaß – für sein Amt und die EU.

Seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wird regelmäßig und zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um eine völkerrechtswidrige Invasion handelt. Seltener wird erwähnt, dass es sich nicht um den ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der letzten Jahrzehnte handelt und dass das Völkerrecht auch vom Westen gebrochen wurde.

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Der Präzedenzfall Kosovo ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Nur aus strategischen Überlegungen war für den Westen ein unabhängiger Staat Kosovo bedeutender als die territoriale Integrität Serbiens. Ein Paradebeispiel für die Herrschaft der Großmächte, die ihre geopolitischen Interessen über völkerrechtliche Bestimmungen stellen, vor allem in der Frage der Anerkennung oder Nichtanerkennung eines neuen Staatengebildes.

Russland erklärte damals, dass die Unabhängigkeitserklärung Kosovos eine Verletzung des Völkerrechts darstelle und Russland nur die Republik Serbien anerkenne. Im Fall der Krim bediente sich Moskau einer gegenteiligen Argumentation und agierte hier ebenso widersprüchlich und völkerrechtswidrig wie der Westen zuvor auf dem Westbalkan. Die bisherige Taktik der Großmächte – völkerrechtliche Prinzipien in den Hintergrund zu drängen oder zu ignorieren – ist also Bestandteil der Weltpolitik. Solches Vorgehen wird vom mehr oder weniger durchsichtigen Versuch begleitet, dies mit pseudolegaler Rhetorik zu legitimieren.

Das Völkerrecht darf aber nicht Wachs in den Händen hegemonialer Kräfte sein. Das wurde auch im Verhältnis der Ukraine zu den Regionen in der Ostukraine deutlich, wozu im Minsker Abkommen 2015 ausdrücklich geregelt war, dass alle an den militärischen Auseinandersetzungen beteiligten Personen nicht strafrechtlich belangt werden konnten. Die Tatsache, dass die Ukraine dieses Abkommen brach, mit stiller Duldung des Westens, war einer der Gründe dafür, dass sich die Kämpfe in diesem Gebiet seit 2015 fortsetzten.

Eine »werteorientierte Außenpolitik«, wie sie im Westen propagiert wird, ohne völkerrechtliche Grundlage kann in einem Kriegsfall auch einen Friedensschluss verhindern. Welche Werte das sind, denen sich auch Annalena Baerbock verpflichtet fühlt, die sich selbst als Völkerrechtlerin bezeichnet, wird zur Stunde deutlich. Im Krisenfall hat dieses Konzept nichts zu bieten außer mehr Waffen und Sanktionen, Elend, Tod und Verderben.

Das Recht ist nur ein Ordnungsfaktor neben anderen in den internationalen Beziehungen. Militärische Macht und wirtschaftlicher Druck – also: Gewalt und Geld – sind weitere. Völkerrechtliche Strukturen müssten stärker institutionalisiert werden, so dass internationale Organisationen über die Kompetenz verfügen, das Völkerrecht zu implementieren. Die UNO verfügt derzeit nicht über die Möglichkeiten, das Völkerrecht in einem Fall wie dem Krieg in der Ukraine durchzusetzen, denn der UN-Sicherheitsrat wird von jenen Großmächten dominiert, die seit Jahrzehnten das Völkerrecht ignorieren oder nach ihrem Gusto manipulieren.

Am Vorabend der russischen Invasion in der Ukraine stellte die ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz und frühere Vorsitzende des Europarats Micheline Calmy-Rey (SP) nüchtern und doch weitsichtig fest: Um den Werten, die sie verkündet, gerecht zu werden und strategisch Autonomie zu erlangen, müsse die EU eine »neutrale und blockfreie« Macht werden, »unabhängig und gewaltfrei zwischen den Blöcken«.

Das klingt zur Stunde illusorisch. Die EU folgt, in Ermangelung eigener außen- und verteidigungspolitischen Grundsätze, blindlings den Vorgaben Washingtons. Eine EU, die so etwas wie eine aktive Neutralität betreiben würde, hätte die Möglichkeit, sich als Verteidigerin völkerrechtlicher Prinzipien ins Gespräch zu bringen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg; aber ein Weg, der gegangen werden muss. Oder um es mit dem früheren französischen Präsidenten Charles de Gaulle zu sagen: »Wenn es zu verhindern gilt, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuert, kann nur eine politische Lösung den Frieden wiederherstellen.«

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