Obdachlosigkeit nicht gottgegeben

Über kostenlose Tickets und gestiegene Grundstückspreise

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 2 Min.

Da sitzt zu Ostern ein alter Mann auf einer Parkbank und füttert die Tauben. Als seine Hände leer sind, steht er auf und zieht auf der Parkbank nebenan unter einer Plane noch ein Stück Brot hervor. Da bemerke ich, dass der Mann unter der Plane seine Habseligkeiten verstaut hat. Es ist einer von vielen Obdachlosen, die ich in der Innenstadt von Madrid antreffe. Ich sehe sie unweit des Museums El Prado und der Königlichen Akademie der Schönen Künste, in denen ich Gemälde mit biblischen Motiven alter Meister bewundern kann. Ich sehe sie in den Straßen, durch die feierlich die Osterprozessionen der katholischen Kirchen ziehen.

Doch um Luxus und Elend so nahe beieinander zu finden, müsste ich nicht verreisen. Zuhause in Berlin begegnen mir Obdachlose an Bahnhöfen, unter Brücken und in der S-Bahn. Wenn sie ohne Fahrschein unterwegs sind und erwischt werden, aber das Bußgeld natürlich nicht bezahlen können, droht ihnen eine Ersatzfreiheitsstrafe.

Darum gefällt mir die Idee des Berliner FDP-Abgeordneten Tobias Bauschke: Soziale Einrichtungen sollen Bescheinigungen ausstellen, mit denen Obdachlose kostenlos Bus und Bahn fahren dürfen. Ob dergleichen aus christlicher Barmherzigkeit oder sozialem Verantwortungsgefühl geschieht, ist ganz egal, wenn nur etwas unternommen wird, um die Not zu lindern.

Dabei darf man es aber nicht bewenden lassen. Im September 2021 stellte die damalige Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) den Masterplan zur Überwindung der Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 vor. Das wird nicht einfach in einer Stadt, in der zuletzt so viele Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden wie nie zuvor und in der die Grundstückspreise explodieren.

Aber an den Gedanken, dass Obdachlosigkeit gottgegeben sei, will und kann ich mich nicht gewöhnen. Ich weiß, dass es anders geht. Denn ich bin in einem Staat aufgewachsen, in dem zwar Wohnungsnot herrschte, aber trotzdem niemand auf der Straße schlafen musste.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.