Die Kunst der Verstellung

Wie Beatrice und Jeffrey Schevitz zu Spionen der HVA wurden und was sie mit den KGB-Agenten Heidi und Wolfhard Thiel verbindet

Wie wird man ein Spion? Oder eine Spionin? Durch Zufall. So jedenfalls geschah es Beatrice Altmann-Schevitz und Jeffrey Schevitz, dereinst im Dienste der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR stätig, sowie Heidi und Wolfhard Thiel, deren Auftraggeber der sowjetische KGB war. Vergangene Woche erzählten sie in Berlin ihre Geschichte. Wo? Natürlich im Spionagemuseum am Leipziger Platz.

Die Vier haben kein Problem, als Spione oder Agenten bezeichnet zu werden. Obwohl sich die an den geheimen Front für die HVA tätigen Männer und Frauen bekanntlich Kundschafter für den Frieden nannten. Egal, ob Spion, Agent oder Kundschafter - als ein solcher wird man nicht geboren. Und doch schaffte es das Ehepaar Schevitz in quantitativer Hinsicht auf Platz 2 der »Best-Of« des Referats I/1 des DDR-Auslandsgeheimdienstes, wie Experte Helmut Müller-Enbergs aus der schriftlicher Hinterlassenshaft des MfS weiß. Trotzdem sind die Namen der beiden US-Amerikaner nicht so geläufig wie etwa der von Günter Guillaume, dem HVA-Spion im Bundeskanzleramt, nach dessen Enttarnung Willy Brandt 1974 zurücktrat. Die eifrige und akribische Ausspäh- und Beschaffungstätigkeit des Ehepaar Schevitz fußte auf politischen Überzeugungen, auch wenn Jeffrey bekennt, anfangs eher unpolitisch gewesen zu sein.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Der US-Amerikaner - »aufgewachsen, wo Joe Biden geboren wurde«, nämlich in Scranton, Pennsylvania, - wollte eigentlich Physik studieren. Und dann verschlug es ihn letztlich zur Soziologie. Der Princeton-Absolvent, also von einer der sechs US-amerikanischen Elite-Universitäten, die unter dem Label »Ivy League« firmieren, wurde durch den Vietnamkrieg politisiert. Er drehte Dokumentarfilme über einen »wilden« Streik in einer Stahlfabrik von Buffalo im Bundesstaat New York, über Sozialhilfeempfänger und die US-Waffenindustrie sowie deren mörderisch-profitablen Geschäfte während des Krieges in Indochina. Er gehört zur Neuen Linken in den USA und lehrt an der University of California, Berkeley über Marx und radikale Theorien. Einer wissenschaftlichen Karriere ist dies abhold. Seine befristete Dozentenstelle als Soziologieprofessor wird nicht in eine unbefristete umgewandelt, zahlreichen Bewerbungen andernorts werden abschlägig beantwortet. Das John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der FU in Westberlin heißt ihn hingegen willkommen. Derweil ist aber auch eine andere Institution auf ihn aufmerksam geworden: die CIA. Man schätzt dort seine Artikel, sie seien bestechend objektiv und analytisch: »Solche Leute können wir gebrauchen.« Man versucht ihn anzuwerben. Doch der Preis ist zu hoch: Er soll sich von seiner neuen Liebe trennen, wünscht der Geheimdienst.

»1975 trat Jeffrey in mein Leben«, erinnert sich Beatrice Altmann-Schevitz, »ein schlanker, gut aussehender Mann mit langen, buschigen Haaren, braunen leuchtenden Augen und einem braunroten Vollbart. Er hatte einen herzlichen Blick und ein warmes Lächeln.« Er ist ihr Professor. Obwohl er 14 Jahre älter ist, verliebt sie sich in ihn, der ihre politische Gesinnung teilt und auch ihren Studienaufenthalt in einem Reservat der Sioux-Indianer in South Dakota unterstützt. Die 1955 in Buffalo in einer jüdischen Familie geborene Beatrice empfindet früh Empathie für marginalisierte, ausgegrenzte, leidgeprüfte Menschen. Die Jahre ihrer Kindheit sind überschattet von der Ermordung von John F. Kennedy, Malcolm X, Martin Luther King und »Bobby« Kennedy. Sie wächst auf mit der Musik der Beatles und den Protestsongs von Joan Baez, Pete Seeger und Bob Dylan. Sie bewundert die unerschrockene junge afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis. Sie ist erschüttert über das Massaker von Attica, die brutal-blutige Niederschlagung eines Gefängnisaufstandes 1971. Mit Jeffrey Schevitz liest sie linke Klassiker und diskutiert Alternativen zum Kapitalismus. Als er mit ihr nach Westberlin gehen möchte, sind ihre Eltern allerdings »not amused«. Ins Naziland?!

In der Frontstadt des Kalten Krieges stürmen Erfahrungen und Erlebnisse auf Beatrice Altmann und Jeffrey Schevitz ein, die ihr Leben vollkommen umkrempeln. Beide sind neugierig auf den Osten, auf die andere Hälfte von Berlin, auf das Leben hinter der Mauer. Von einer Freundin und politischen Aktivistin in den USA hat Beatrice Altmann die Telefonnummer von Walter Kaufmann in Ostberlin erhalten, der als junger Jude vor den Nazis in Deutschland bis nach Australien geflüchtet war, in der dortigen Armee seinen Beitrag zum Sieg über den japanischen Faschismus geleistet hat und in der DDR als freiere Schriftsteller tätig ist. Sie ruft ihn an, ein Besuch wird vereinbart.

Jeffrey Schevitz steht dem DDR-, exakter: sowjetischen Sozialismusmodell eher skeptisch gegenüber. Aber dann ist er überrascht und zunehmend fasziniert. Gern nimmt er eine Einladung zum Leipziger Dokumentarfilmfestival an. Auf dem Weg dorthin begegnet ihm Viktor Grossman, gebürtiger New Yorker, der zu Beginn des Korea-Krieges in die US-Army eingezogen worden war einer in Bayern stationierten Einheit angehörte. Als ihm wegen seiner KP-Mitgliedschaft das Militärgericht drohte, desertierte er und schlug sich über Österreich bis in die DDR durch, wo er als Journalist arbeitete. Natürlich hatte sich auch Grossman vergangene Woche im Berliner Spionagemuseum eingefunden. Denn auch er gehörte zu dem wachsenden englischsprachigen Freundeskreis von Beatrice Altmann und Jeffrey Schevitz, der damals die Berliner Mauer überspannte.

Zu diesem gesellte sich immer öfter ein »Lutz«. Als dieser erfährt, dass Bea und Jeffrey in die DDR überzusiedeln wollen, schlägt er kurz vor Weihnachten 1976 ein Treffen im Ostberliner Pressecafé vor, um die Modalitäten zu besprechen. Doch dann offeriert er Jeffrey eine weitere Zusammenkunft, diesmal mit Kollegen aus dem »Außenministerium«. Es folgen Gespräche in konspirativen Wohnungen, bei denen nun auch Beatrice anwesend ist. Diese Anwerbung ist letztlich erfolgreich. »Jeffrey und ich waren zunächst hin- und hergerissen«, gesteht Beatrice Altmann-Schevitz, die gern ihren Lebensmittelpunkt in die DDR verlegt hätte. »Das Leben als Spion hatte durchaus seine Anziehungskraft. Doch ich war nicht naiv. Ich verstand, dass der Kalte Krieg ernst war und dass eines Tages daraus ein heißer Krieg werden könnte. Um das zu verhindern, wäre es unsere Aufgabe, Informationen zu sammeln«, schreibt sie in ihrer nun erschienen Autobiografie »Der Schatten im Schirm«. Beeinflusst wurde die Entscheidung der beiden durch eine Untersuchung über illegale Aktivitäten der CIA und NSA (National Security Agency), die für die Inszenierung von Putschen und Bürgerkriegen in Staaten mit Regierungen verantwortlich waren, die in Washington als unliebsam galten, beispilsweise die chilenische unter Salvador Allende.

Beatrice und Jeffrey werden in die Kunst der Verstellung und die Welt der verschlüsselten Kommunikation eingewiesen, mit Methoden der Chiffrierung und Dechiffrierung vertraut gemacht, lernen Dokumente abzufotografieren und tote Briefkästen zu bestücken. Fortan müssen sie sich im Westen von linken Demonstrationen und Kundgebungen fernhalten. Vor ihrem Umzug nach Bonn wird geheiratet. Und Baby Jan erblickt noch in Berlin das Licht der Welt.

Es ist die Zeit der Verhandlungen zum Atomwaffensperrvertrag. Jeffrey Schevitz soll Akademiker und Politiker, Diplomaten und Journalisten zu deren Meinungen über Nuklearenergie und Nuklearwaffen aushorchen, was ihm auch gelingt. Sein »Ivy League«-Hintergrund ist eine famose Visitenkarte. Auch die jüdische Herkunft der beiden öffnet einige Türen.

Beatrice Altmann-Schevitz arbeitet drei Jahre in der Botschaft des Apartheidstaats Südafrika und anschließend zehn Jahre als Sozialarbeiterin bei den US-Streitkräften in der Bundesrepublik. Jeffrey Schevitz erlangt 1980 eine (unbefristete!) Stelle am Kernforschungszentrum Karlsruhe, streckt seine Fühler bis in den Bundestag und das Bundeskanzleramt aus, kann Quellen abschöpfen, die ebenfalls ein Gütesiegel von der HVA erhalten: Platz 4 unter den Topquellen des Referats I/1 der HVA, so Müller-Enbergs, Autor zahlreicher Publikationen über das MfS.

Eine der prominenten Quellen von Jeffrey Schevitz, »Caesar«, wird sich nach der Enttarnung des US-amerikanischen Agentenpaares 1994 im Zuge der Veröffentlichung der »Rosenholz«-Dateien enttäuscht und verraten fühlen. Die in der dramatischen Umbruchszeit in der DDR in die Hände der CIA gelangten 381 CD-ROMs mit etwa 350 000, vielfach unverschlüsselten mikroverfilmten Karteikarten der HVA führte unter anderem zur Verhaftung von Rainer Rupp, der als »Topas« der Top-Spion des DDR-Auslandgeheimdienstes beim Nato-Hauptquartier in Brüssel gewesen war und nun zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das Ehepaar Schevitz kommt mit einer Geld- und einjährige Bewährungs- strafe davon. Sie konnten den Richter überzeugen, »Doppelagenten« gewesen zu sein. Der flüchtige CIA-Kontakt von Jeffrey war hierbei hilfreich. Die Central Intelligence Agency pflegt Anfragen weder zu bestätigen noch zu dementieren.

Anders als die HVA-Agenten Schevitz, die ihren US-amerikanische Background für ihre Spionagetätigkeit nutzen konnten, mussten die Eheleute Thiel, die sich als »DDR-Gewächse« bezeichnen, in völlig fremde Rollen schlüpfen.Der KGB stattete Wolfgang und Heidi Thiel mit zwei US-amerikanischen und zwei kanadischen Identitäten aus.

Wolfhard Thiel, 1951 in Greifswald geboren, hatte an der Rostocker Universität Physik studiert, was der ursprüngliche Studienwunsch von Jeffrey Schevitz gewesen war. Auch bewarb sich eine Weile vergeblich auf verschiedene Arbeitsstellen. Zufällig kam er in Kontakt mit dem russischen Konsulat in der ostdeutschen Hansestadt in Verbindung, wo ihm versichert wurde, man könne ihm helfen. So geht es für Wolfhard Thiel erst einmal von Rostock nach Rostow am Don.

Wie Jeffrey Schevitz hat auch er kurz vor seiner Anwerbung seine große Liebe gefunden: Heidi, eine Ostberlinerin im dritten Semester Lehrerstudium in Rostock. Wie Beatrice Altmann-Schevitz erinnert sich Heidi Thiel an den CIA-gesteuerten Pinochet-Putsch gegen die Allende-Regierung als ein sie erschütterndes und prägendes Ereignis. Von der KGB-Verpflichtung ihres Mannes erfährt sie erst nach der Hochzeit, kann seine Entscheidung aber mittragen - als begeisterte Leserin von »Sonjas Raport« der Ruth Werner sowie »Dr. Sorge funkt aus Tokio«, ein ebenfalls mehrere Auflagen in der DDR erlebendes Buch über den 1944 in Tokio hingerichteten KGB-Spion Richard Sorge. »Ich konnte mir aber nicht vorstellen, selbst einmal Kundschafterin zu sein«, berichtet sie. Nach der Offenbarung ihres frisch angetrauten Ehemannes habe sie »erst einmal geschluckt«. Wolfram Thiel hatte sie bei einem universitären Seminar über den den KSZE-Prozess kennengelernt: »Er fiel mir sofort auf. Wir haben viel diskutiert, er hatte sehr gute Argumente.« Sie bekamen beide 1982 eine solide Geheimdienstausbildung als Agentenpaar, zu der insbesondere Sprachunterrichtgehörte. »Für mich ein Horror, beschränkt sich doch das Vokabular in Physik auf 500 Worte«, scherzt Wolfram Thiel. Die Thiels bestehen alle Test und gehen als echte Amis durch. Zu ihrer Vorbereitung gehört eine ausgiebige Reise an relevante Orte ihrer angeblichen Kindheit und Jugend in Kanada und den USA, damit sie sich nicht irgendwo, irgendwann und irgendwem gegenüber durch Unkenntnis verraten. »In New York wurde noch einmal geheiratet, in einer Kirche mit German Background«, erzählt Heidi Thiel. »Der Pfarrer, der zur Vorbereitung der Trauung mit uns sprach, war erstaunt: Er habe bei noch keinem Paar so viele Übereinstimmung, gerlebt wie bei uns.« Heidi Thiel lacht: »Da haben wir ja schon sieben Jahre zusammengelebt.«

Das Paar berichtet über zeitraubende geheimdienstliche Kommunikation über Zigtausende Kilometer hinweg vor der Erfindung des World Wide Web. Verschlüsselte Briefe über Mexiko nach Moskau benötigten mitunter vier Wochen. Führungsaufgaben mussten die beiden nicht erfüllen, sie waren im Bereitschaftsdienst, sollten für weiteren Informationsfluss aus den USA sorgen, falls beispielsweise sowjetische Diplomaten ausgewiesen werden.,

Der Untergang der DDR hat beide Ehepaare hart getroffen. Obwohl Wolfram eine gut dotierte Stelle in einem Labor der Columbia University hatte, kehrten die Thiels zurück. Eine Weiterbeschäftigung für den russischen Nachfolgedienst FSB lehnen sie höflich, aber bestimmt ab: »Wir sind nicht aus Rache vergiftet worden«, merkt Wolfram Thiel schmunzelnd an. Der Krieg um die Ukraine entsetzt beide Agentenpaare und rechtfertigt in ihren Augen nachträglich ihre einstige geheimdienstliche Tätigkeit, deren Ziel es war, die Balance der Stärke zwischen den Blöcken in Zeiten des Kalten Krieges zu wahren, damit er nicht in einen heißen umschlage.

Beatrice Altman-Schevitz: Der Schatten im Schatten. Mein Leben als US-Amerikanerin und MfS-Spionin im Kalten Krieg. Edition Berolina, 332 S., geb., 19,99 €.

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