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Recht auf Abtreibung vor dem Ende
Grundsatzurteil-Entwurf des US-Supreme-Court könnte auch weitere liberale Errungenschaften bedrohen
Schon kurze Zeit nachdem der Artikel auf der Nachrichtenseite »Politico« erschienen war, tauchten die ersten aufgebrachten Demonstrant*innen vor dem Supreme Court in Washington DC auf, um gegen das Ende des Rechts auf Abtreibung in den USA zu protestieren. Das scheint jetzt tatsächlich zu kommen, wie die Vorabveröffentlichung des Urteilsentwurfs des Obersten Gerichts durch »Politico« zeigt. 98 Seiten ist er lang und offenbar durch den konservativen Richter Samuel Alito als »Mehrheitsmeinung« geschrieben worden.
»Wir denken, das Roe und Casey überstimmt werden muss«, schreibt der 2006 von George W. Bush ernannte Richter in dem Dokument, das als »erster Entwurf« betitelt ist. Gemeint ist die Supreme-Court-Entscheidung Roe vs. Wade von 1973, das ein grundsätzliches Recht auf Abtreibung bis zur 23. Schwangerschaftswoche erklärt - damals stimmten übrigens fünf von Republikaner-Präsidenten ernannte Richter zusammen mit zwei »demokratischen« Richtern für das Recht auf Abtreibung. 1992 bekräftigte der Supreme Court dann in der Entscheidung Planned Parenthood vs. Casey erneut Roe vs. Wade - auch mit dem Hinweis, das bereits Anfang der 90er »eine ganze Generation« mit dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch aufgewachsen sei, dies für selbstverständlich halte und ein Rollback dem Ansehen und der Legitimität des Gerichts in der Bevölkerung schaden könne.
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Fast fünf Jahrzehnte später steht Roe vs. Wade nun kurz vor der Abschaffung. Der geleakte Entscheidungsentwurf von Alito stammt von Anfang Februar, Experten halten ihn für echt. Im Dezember war in einer mündlichen Anhörung zum Fall Dobb vs. Jackson Womens Health Clinic und der Frage, ob das 2018 in Mississippi verschärfte Abtreibungsverbot schon nach der 15. Woche verfassungswidrig ist, deutlich geworden, dass fünf der neun Supreme-Court-Richter Roe vs. Wade abschaffen wollen. Das scheint laut Politico-Informationen auch Ergebnis eines internen Probevotums im Dezember zu sein, wie es nach mündlichen Verhandlungen üblich ist, und soll sich nicht geändert haben. Mit den von Republikaner-Präsidenten ernannten Richtern Samuel Alito, Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh and Amy Coney Barret gäbe es eine 5-zu-4-Mehrheit für die Entscheidung, selbst wenn der im vergangenen Jahr noch als mögliche »Unentschiedener« angesehene John Roberts nicht mit der konservativen Mehrheit stimmen würde.
Der konservative Vorsitzende des Gerichts hatte im vergangenen Jahr durchblicken lassen, man könne ja auch nur urteilen, das Gesetz aus Mississippi sei nicht verfassungswidrig, ohne zugleich Roe vs. Wade aufzuheben. Das hätte für den Ruf des Gerichts und dessen Aura der Überparteilichkeit, um die sich Roberts, aber auch Teile des moderat konservativen gesellschaftlichen Establishments sorgen, den Vorteil, dass man zwar Abtreibung faktisch verboten hätte aber gleichzeitig öffentlich hätte erklären können, Roe vs. Wade nicht abgeschafft zu haben.
Der Leak des Entwurfs zeigt die Brisanz der Entscheidung. In der Geschichte des Supreme Court seit dem 19. Jahrhundert wurden zwar einige Urteile vorab von Gerichtshelfern und auch Richtern selbst »durchgestochen«, aber es waren nur ein paar. Die offizielle Veröffentlichung der Entscheidung durch das Gericht, das traditionell darauf bedacht ist, sich nicht in die Karten schauen zu lassen und keinen Einblick in interne Diskussionen zu geben, wird erst in ein bis zwei Monaten erwartet.
Theoretisch könnte es noch Änderungen am Urteilstext geben oder intern noch ein Stimmenhandel stattfinden. Beobachter sehen die Veröffentlichung auch als mögliches Manöver, um über das »Gericht der öffentlichen Meinung« einzelne Richter wie etwa Roberts doch noch zum Umdenken zu bewegen. Laut den letzten Umfragen von Pew, Gallup, YouGov und CNN lehnen je nach Fragestellung 58 bis 70 Prozent der US-Amerikaner*innen die Abschaffung von Roe vs. Wade ab. In keinem Bundesstaat gebe es mehr als 30 Prozent Zustimmung für ein Abtreibungsverbot, schreiben die Forscher von Data For Progress.
Doch Alito sieht sich nicht der öffentlichen Meinung verpflichtet, sondern einer in konservativen Juristenkreisen in den letzten Jahren immer beliebter gewordenen, weil politisch opportunen Strömung, die die Verfassung nicht sinngemäß, sondern wörtlich interpretiert: »Die Verfassung erwähnt Abtreibung nicht und ein Recht auf Abtreibung ist auch nicht implizit durch irgendeinen Teil der Verfassung gegeben«, schreibt er in dem Urteilsentwurf. Grundrechte müssten »tief verwurzelt sein in der Geschichte und Tradition der Nation«, was bei Abtreibung nicht der Fall sei, so Alito, der auf weitreichende Abtreibungsverbote im 19. Jahrhundert verweist.
Die Bürgerrechtsbewegung fürchtet, dass es um viel mehr geht als um das Abtreibungsrecht. Der Direktor der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union, Udi Ofer, kommentiert: »Das Urteil ist so geschrieben, dass es eine Basis ist, um auch LGBT-Rechte oder das Recht auf Verhütungsmittel zu beenden.« In der Tat scheint dies auch Alito aufzufallen, doch der Mann, dessen Urteil von christlich-rechter Rhetorik nur so trieft - Ärzte und Krankenschwestern, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, werden von ihm als »abortionists« bezeichnet - erklärt dazu nur, andere historisch neue Rechte seien nicht mitgemeint. Man gebe das Recht, Abtreibung »zu regulieren«, nur an die Staaten zurück, so Alito.
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Wenn das passiert, könnte Abtreibung sofort nach der Urteilsverkündung in rund der Hälfte der US-Bundesstaaten, die von den Republikanern regiert werden, illegal und strafbar sein, weil sie bereits mit sogenannten Trigger-Gesetzen vorgesorgt haben. Diese setzen im Fall eines Supreme-Court-Urteils in ihrem Sinne Abtreibungsverbote in Kraft.
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