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Eine immerwährende Verpflichtung
Der Historiker Wolfgang Benz über die besondere historische Verantwortung Deutschlands, den Großen Vaterländischen Krieg, Respekt und Anstand
Professor Benz, hätten Sie es je für möglich gehalten, dass Russland die Ukraine überfällt?
Nein, das habe ich nicht für möglich gehalten. Ich bin immer noch fassungslos.
Wolfgang Benz, Jahrgang 1941, ist ein international renommierter Historiker. Er forscht zu Nationalsozialismus und Antisemitismus und lehrte von 1990 bis 2011 an der Technischen Universität Berlin, wo er das dort angesiedelte Zentrum für Antisemitismusforschung leitete.
Er ist Autor und Herausgeber von Standardwerken, so die "Enzyklopädie des Nationalsozialismus", das mehrbändige "Handbuch des Antisemitismus" und "Orte des Terrors". Mit dem Geschichtsprofessor sprach Karlen Vesper.
Wie kommentiert der Historiker Putins Kriegsziel der Entnazifizierung der Ukraine?
Das ist Teil einer infamen psychologischen Kriegsführung. Leider ist der russische Präsident damit im eigenen Land erfolgreich. Denn in Russland erinnert man sich, dass es in der Ukraine auch Menschen gab, die Hoffnungen auf Hitler gesetzt hatten, die glaubten, dass die deutsche Wehrmacht einmarschiert sei, um sie vom Joch Stalins, von der Sowjetherrschaft zu befreien. Das ist bis heute im öffentlichen Gedächtnis der Russen präsent. Die Erfahrungen und Verletzungen des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945 wirken bis in unsere Tage nach.
Dem Schlagwort von der »Entnazifizierung« scheint die Ukraine aber auch Vorschub zu leisten mit der Aufstellung von Denkmälern für den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera.
Die Bandera-Denkmäler sind nicht jetzt oder erst gestern errichtet worden, diese Welle rückwärts gewandten Nationalismus’ erfasste schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Ukraine. Aber nichts rechtfertigt den Überfall auf die Ukraine und die Massaker gegen die Zivilbevölkerung.
Die Ukrainer haben zusammen mit den Russen und Belarussen die größten Opfer im Kampf gegen Hitlerdeutschland erbracht.
Ja, und das bleibt auch festzuhalten. Der Roten Armee gehörten nicht nur Russen, auch sehr viele Ukrainer, Georgier, Usbeken, Aserbaidschaner, Kasachen und andere Ethnien der Sowjetunion an.
Was halten Sie vom immer mal wieder unternommenen Vergleich von Opferzahlen?
Davon halte ich gar nichts. Das gegenseitige Aufrechnen haben wir uns mühsam abgewöhnt. Die Leiden des einen sind nicht zu verrechnen mit den Leiden der anderen. Die schiere numerische Zahl der Opfer sagt allein nicht viel über das unfassbare Unrecht und die unbeschreiblichen Verbrechen aus, die Deutschland über die europäischen Völker gebracht hat. Die Brutalität des Vorgehens der Wehrmacht und in ihrem Gefolge der SS, des SD sowie der Okkupationsbehörden, die deutsche Eroberungs‑, Ausplünderungs- und Vernichtungspolitik 1939 bis 1945 waren und sind beispiellos.
Gleich den Opferzahlen werden im aktuell-politischen Streit zwischen Staaten und Nationen fast inflationär die Begriffe Völkermord oder Genozid bemüht, gegenwärtige grausame Geschehnisse mit der Shoah, dem Holocaust gleichgesetzt. Ihr Kommentar?
Völkermord ist die von einem Staat getragene, geplante systematische Ausrottung einer anderen Nation oder Ethnie. Das trifft auf den Mord an sechs Millionen europäischer Juden unbedingt zu, das trifft auf den Mord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg zu. Das traf für einige Massenmorde in Afrika, etwa an den Nama und Hereo zu Beginn des 20. Jahrhundert und an den Tutsi in Ruanda am Ende des 20. Jahrhundert, zu. Das gilt für die Massaker während des Zusammenbruchs von Jugoslawien. Aber nicht jede Gräueltat, die bei kriegerischen Handlungen geschieht, nicht jede Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte ist mit dem Wort »Völkermord« zu benennen oder zu erklären. Das, was Putins Truppen derzeit in der Ukraine anrichten, sind Völker- und Kriegsrecht verletzende Gräuel, aber nicht Völkermord. Wir haben keine Belege, dass Putin alle Ukrainer auslöschen will, weil sie Ukrainer sind, und den ukrainischen Staat gänzlich von der Landkarte tilgen will.
Es gibt einige Absagen von Großveranstaltungen zum 8. Mai in diesem Jahr, was manchen Kräften recht sein wird. Ist das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus durch den Ukraine-Krieg obsolet geworden?
Natürlich nicht. Keineswegs. Wir wollen oder sollten nicht in die Zeiten der Totalitarismus-Theorie zurückfallen. Das wäre ein Eingeständnis, dass wir nicht aus dem Kalten Krieg gelernt hätten. Selbstverständlich bleibt die Erinnerung an die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus eine dauernde Aufgabe. Im Oktober 2020 hat der Deutsche Bundestag dementsprechend die Errichtung eines Dokumentationszentrums in Berlin beschlossen, das an die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa erinnern soll. Die Erinnerung und das Gedenken bleiben eine dauernde Verpflichtung, sind keineswegs mit dem Putinschen Angriff auf die Ukraine erledigt, können durch aktuelle weltpolitische Ereignisse nicht relativiert oder gar abgestreift werden.
In der Bundestagsdebatte zu diesem Dokumentationszentrum hat ein Vertreter der AfD die Stimmenthaltung seiner Partei damit begründet, dass diese Erinnerungsstätte Ausdruck eines »Sündenstolzes der Deutschen« und eines »hypermoralischen Büßertums« sein würde. Wie kann man so etwas heute noch von sich geben?
Da werden Ängste bedient, da wird an niedere Instinkte appelliert, da wird die rechtspopulistische Schraube gedreht: Nationalismus als Hurra-Patriotismus. Man sei stolz, ein Deutscher zu sein. Ich weiß gar nicht, warum man sich auf all diesen Unsinn noch einlässt. Es ist es nicht wert, jede Äußerung zu kommentieren, sei es von AfD-Politikern oder aus anderer rechten Ecke, und leider eben auch im Bundestag. Man sollte diese Leute ignorieren, ihnen nicht eine breitere Öffentlichkeit verschaffen, indem man auf jeden dummen Satz eingeht. Über solch abgestandene nationalistische Deutschtümelei, die manchen Leuten immer noch aus allen Poren dringt, haben wir uns 1952 oder 1961 aufgeregt. Dafür gibt es keinen Anlass mehr, denn solches krudes Gedankengut hat keinen Konsens in der Mehrheit der heutigen deutschen Gesellschaft.
Hat Deutschland nach dem großen Krieg nicht eine besondere Verantwortung gegenüber allen ehemaligen Ex-Sowjetrepubliken? Bezogen auf die aktuelle Situation also nicht nur gegenüber der Ukraine, sondern auch Russland. Und wenn ja, wird diese mit der Lieferung schwerer Waffen an Kiew nicht konterkariert?
Als überzeugter Pazifist halte ich jede schwere Waffe für ein schädliches Ding, lehne Waffen und Waffenexporte prinzipiell ab. Deutschland hat jedoch eine bleibende Verantwortung gegenüber allen Nationen, die von Hitlerdeutschland überfallen, gedemütigt, geschädigt worden sind. Humanitäre Hilfe ist deshalb geboten. Dass die Entsendung von schweren Waffen und anderer Kaliber in Krisen- oder Kriegsgebiete oder sonst wohin überhaupt gerechtfertigt sei, muss aber nicht der Historiker entscheiden, das entscheiden die Politiker. Und zwar nach Interessen und Meinungen. Meines Erachtens hat der Kanzler es sich nicht leicht gemacht und zu Recht lange gezögert. Dafür hat er meine Sympathie. Ich gestehe zugleich, dass ich froh bin, solche Fragen nicht entscheiden zu müssen, sondern als Historiker mich darauf beschränken darf, Ursachen, Hintergründe und Zusammenhänge zu erforschen und zu beurteilen. Allerdings wäre ich glücklich, wenn die Politiker auf die Historiker hören würden.
Die Aufgabe seiner Verweigerungshaltung »verdankt« sich vor allem dem Insistieren des ukrainischen Botschafters in Berlin – der übrigens den gleichen Namen trägt wie der Mitbegründer der mit den Nazis kollaborierenden Organisation Ukrainischer Nationalisten. Jener Andrij Melnyk hatte wie Bandera auch für die deutsche Abwehr gearbeitet.
Für diese Namensgleichheit kann der Botschafter noch am wenigsten. Ansonsten meine ich, dass seine Aktivitäten unendlich schädlich sind für seine Nation. Es ziemt sich für einen Diplomaten nicht, wahllos und rundum Politiker anderer Staaten zu beleidigen, nur weil sie nicht mit fliegenden Fahnen auf alle seine Forderungen und Wünsche eingehen. Er soll übrigens auch den faschistischen Nationalistenführer Bandera als ukrainischem Patrioten in höchsten Tönen gerühmt haben, einen Mann also, der an der Ermordung Tausender ukrainischer Zivilisten, Juden sowie Bürger polnischer Herkunft, beteiligt gewesen ist.
In Kiew gibt es ein Holodomor-Museum. Nicht zufällig wurde die deutsche Außenministerin bei ihrem ersten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt in eben dieses geführt. War die große Hungersnot 1932/33 in der Ukraine einem Ausrottungsplan Stalins geschuldet, wie es offiziell in Kiew heißt, oder durch überstürzte Kollektivierung?
Nein, es war kein gezielter, bösartiger Ausrottungsplan, kein Völkermord. Die große Hungersnot war Teil einer von Stain geplanten politischen Maßnahme, die billigend den Tod von Millionen Menschen nicht nur in der Ukraine in Kauf genommen hat.
Was sagen Sie zur Ausladungspolitik, die in Deutschland seit dem Überfall auf die Ukraine grassiert und russische Künstler wie Diplomaten trifft?
Ich halte das für eine wenig glückliche Symbolpolitik. Politiker, Diplomaten oder andere Menschen jetzt von Gedenkveranstaltungen zu den Tagen der Befreiung von Konzentrationslagern wie auch zum 8. Mai auszuladen, halte ich für einen Verfall der guten Sitten. Ebenso, wenn Befreiungsdenkmale, beispielsweise sowjetische Panzer, die seit Jahrzehnten in Berlin und einigen anderen deutschen Städten stehen, mit Hetzparolen beschmiert werden. Man muss die aktuelle Politik von Moskau oder Minsk nicht billigen, man kann sie kritisieren. Aber man sollte so viel Anstand vor den Toten und deren Nachkommen aufbringen, dass man nicht aktuellen Zwist auf die Friedhöfe und in die Gedenkstätten trägt. Die Sowjetunion hat im Kampf gegen Nazideutschland das größte Menschenopfer gebracht: 27 Millionen Menschen aus allen Sowjetrepubliken starben im Kampf, wurden ermordet oder dem Hungertod ausgeliefert. Der kollektive Opfertribut lässt sich nicht auseinanderdividieren.
Es ist natürlich auch wahr, dass ohne das amerikanische Geld, ohne amerikanische Waffen, ohne die Anstrengungen der Westalliierten die Sowjetunion es ungemein schwerer gehabt hätte, der Krieg länger gedauert hätte und die Opferzahlen noch größer gewesen wären. Wir schulden immer noch allen ehemaligen Sowjetvölkern Achtung und Dankbarkeit für die Befreiung Deutschlands und Europas von der nationalsozialistischen Pest.
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