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Drei Mal Veränderung
In Berlin könnten 2024 gleich mehrere Volksentscheide auf einmal anstehen
Die Uhr tickt. Vier Monate hat die Berliner Initiative Expedition Grundeinkommen seit Freitag Zeit, um insgesamt genügend Unterschriften für einen Modellversuch zu sammeln, der den deutschen Sozialstaat grundlegend verändern könnte: Über drei Jahre hinweg sollen mindestens 3500 Berlinerinnen und Berliner ein bedingungsloses Grundeinkommen von rund 1200 Euro im Monat erhalten. Als Kostenobergrenze für das Projekt sind im Gesetzesentwurf 70 Millionen Euro vorgesehen.
Obwohl rein theoretisch 175.000 Stimmen für die Initiative reichen würden, will Expedition Grundeinkommen zur Sicherheit 240.000 Unterschriften sammeln. »Das ist eine ganz schöne Menge Holz«, so Laura Brämswig, Mitbegründerin der Bewegung, kürzlich auf einer Pressekonferenz. Einkalkuliert in die Berechnung seien rund 10 bis 20 Prozent, die erfahrungsgemäß als ungültige Stimmen wegfielen. Beim Einsammeln der Unterschriften kann sich die Initiative laut Brämswig auf etwa 16.000 Helferinnen und Helfer verlassen, von denen viele nun mit rosafarbenen Westen auf Stimmenfang gehen sollen. »Wir haben auch Unterstützung, die wir bundesweit bekommen«, sagt die Aktivistin. »Es gibt ganz viele Menschen, die für Sammelferien nach Berlin kommen wollen.«
Für rege Beteiligung soll zudem eine neue Plakatkampagne sorgen. »Stärkt das die Wirtschaft?«, »Entscheiden wir uns dadurch für andere Berufe?« oder »Werden wir dadurch seltener krank?« lauten Fragen, die auf den ebenfalls rosaroten Postern gestellt werden. Die programmatische Antwort steht darunter: »Probieren wir’s aus.«
In der Bevölkerung herrschten noch immer viele Vorurteile in Sachen bedingungsloses Grundeinkommen, sagt Brämswig, die zugleich auch Hemmschwellen in der Politik ausmacht: »In fast allen Parteien gibt es Befürworter für das Thema, aber leider ist es immer noch so, dass es im Parlament nicht wirklich eine Rolle spielt.« Mit alldem soll der Modellversuch aufräumen und dabei gleich auch noch neue Argumente für eine Umstrukturierung des deutschen Sozialsystems liefern. Bei einer erfolgreichen Unterschriftensammlung wird die Abstimmung über den Volksentscheid voraussichtlich zum Termin der nächsten Wahl in Berlin, also erst zur Europawahl 2024, stattfinden. Geht es nach den Vorstellungen von Expedition Grundeinkommen, soll dann eine Art zivilgesellschaftlicher Rundumschlag durchgeführt werden: Die Bürgerinnen und Bürger sollen nicht nur über den Probelauf eines Grundeinkommens, sondern dazu auch über die Volksbegehren »Berlin autofrei« und »Berlin 2030 klimaneutral« abstimmen.
Für die beiden letzteren hatten die jeweils dahinter stehenden Initiativen zuletzt jedoch Rückschläge einstecken müssen. So hatte die Initiative Klimaneustart Berlin den Berliner Senat aufgefordert, bereits für das Jahr 2030 die Klimaneutralität anzustreben. Dieser wies das Anliegen vergangene Woche zurück. Das Land Berlin wird damit nicht von den Zielen auf Bundes- und EU-Ebene, also den bis 2045 beziehungsweise 2050 laufenden Fristen, entkoppelt. »Wir müssen jetzt all unsere Kraft dafür verwenden, in Berlin zu wirklich effektiven, konkreten Maßnahmen für Klimaschutz und Klimaanpassung in den entscheidenden Sektoren zu kommen – statt immer nur neue Klimaschutzziele in Gesetze zu schreiben«, begründete Umweltsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) die Entscheidung.
Jessamine Davis, Sprecherin von Klimaneustart Berlin, zeigte sich anschließend enttäuscht vom Beschluss des Senats: »Wenn wir den Atlantik überqueren wollen, bringt es nichts, ein Boot zu bauen, das nach der Hälfte der Reise untergeht – nur weil das Ziel nicht richtig kalkuliert wurde.« Die bisher in Berlin geplanten Maßnahmen genügten nicht, um das 1,5‑Grad-Limit des Pariser Abkommens zu erreichen. Ziel müsse nun sein, den Handlungsdruck zu erhöhen. »Wir freuen uns aber ausdrücklich, dem Senat bei der Begründung von neuen Klimaschutzmaßnahmen helfen zu können, indem wir ein absolut notwendiges und dringliches Ziel für sie mitdefinieren«, sagte Davis.
Das Vorhaben »Berlin autofrei« befindet sich derweil in der Schwebe: Eine Entscheidung darüber, ob sich das Volksbegehren im Rahmen der Verfassung bewegt, wurde jüngst vertagt. Ursprünglich hätte der Berliner Senat die Frage bis zum 5. Januar prüfen und beantworten sollen. Wie die Initiative Berlin autofrei jedoch Ende April bekanntgab, verschieben sich die Fristen aufgrund von neuen Rücksprachen und Änderungen am Gesetz. Mit Klarheit rechnete die Initiative bis Anfang Mai, doch die Entscheidung lässt auf sich warten.
Ziel des Volksbegehrens ist es, den Autoverkehr innerhalb des Berliner S‑Bahn-Rings erheblich einzuschränken. Besonders umstritten ist die Forderung, dass Bürgerinnen und Bürger mit ihren Pkw lediglich bis zu zwölf Fahrten pro Jahr in die Innenstadt unternehmen dürfen. Von der anfänglichen Position, dass Privatfahrten nur im Zusammenhang mit dem Transport schwerer Güter oder zu Urlaubszwecken erlaubt sein sollen, war die Initiative bereits wegen rechtlicher Bedenken abgerückt.
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