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Wo bleibt das laute Nein zur Rüstung?
Der erste, wenn auch schwierigste Weg zur Konfliktlösung heißt immer noch: Die Waffen nieder!
Auch ich habe eine Erklärung zum Krieg in der Ukraine für einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen unterschrieben. Es ist das Wort der deutschen IPPNW-Sektion, der Ärztevereinigung gegen den Nuklearkrieg, die 1985 den Friedensnobelpreis erhielt: »Die Waffen nieder! Deeskalation jetzt!« Nicht nur, weil ich als Arzt ihr Mitglied bin, unterstütze ich die Forderungen, die auf das Ende der Kampfhandlungen, einen Waffenstillstand, auf Verhandlungen, auf die Aktivierung europäischer Sicherheitsstrukturen, auf ein Moratorium einer Nato- Mitgliedschaft der Ukraine gerichtet sind. Auch den kulturellen Austausch mit Russland aufrecht zu erhalten, auf demütigende Rhetorik zu verzichten verlangt der Text. Andere Wortmeldungen gehen in die gleiche Richtung.
Inzwischen scheint sich die zeitweilige Sprachlosigkeit in der Friedensbewegung oder unter Anhängern einer auf Ausgleich gerichteten Politik mit Russland allmählich zu lösen, nach dem tief wirkenden Schock über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands unter Putin. Ich lese von Vernunft und historischem Wissen getragene Beiträge von Menschen unterschiedlichster politischer Couleur, die aber wissen, worüber sie reden, wenn es um Krieg und Frieden geht. Mitwirkende der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, hochrangige, in Konflikten involvierte und erfahrene Diplomaten mit adligem Namen, der Papst, andere Kirchenvertreter, Kenner der schon seit Jahren verlautbarten und nicht zu leugnenden Ziele der USA gegenüber Russland und mit der Ukraine.
Diese Autoren eint der Wunsch, den Krieg zu beenden und Verhandlungslösungen – auch mit großen Kompromissen – anzustreben. Das ist der erste, wenn auch schwierigste Weg, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Bei der Bundesregierung oder den USA kann ich ein diesbezügliches Bemühen, das wenigstens ebenso intensiv betrieben würde wie das Waffenthema, nicht erkennen, von den Kriegsparteien selbst nicht zu reden.
Zugleich nehme ich eine Art lähmender und wie auch hysterischer Burgfriedensmentalität wahr, die nur noch einen Feind kennt, das endlich zu »ruinierende« Russland, und den »Waffen, Waffen, Waffen«-Schrei nicht nur ukrainischer, sondern auch deutscher Politiker.
Wo ist das laute Nein von Abgeordneten geblieben? »Die Waffen nieder!« – diese Forderung der Bertha von Suttner ist noch immer richtig. Hatte Karl Liebknecht vor über 100 Jahren mit seinem Nein zu den Kriegskrediten nicht schon recht? Das neue 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm wird eines mit Sicherheit nicht leisten: eine friedliche Lösung des Konflikts mit Russland und einen Wiederaufbau der nicht nur in der Ukraine inzwischen zerstörten materiellen und geistig-kulturellen Strukturen.
Ich nehme eine mit Scheinheiligkeit betriebene Sanktionspolitik wahr, verbunden mit einer leichtfüßigen und zynischen Herabwürdigung jahrzehntelanger Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Die waren nicht nur profitabel für die deutsche Wirtschaft, sondern trugen zugleich zu dem vergleichsweise hohen Lebensniveau in unserem Land bei. Wenn Deutschland nun die Ablösung von russischem Gas auch auf Kosten von Drittländern betreiben will, scheint das ebenso absurd wie eine Stilllegung der Erdölverarbeitung in Schwedt oder der Erdgastrasse Druschba, die von der DDR mit großer Mühe und am Ende für die Versorgung des vereinten Deutschlands errichtet wurden. Und nicht zuletzt: Die Klimafrage wird doch nicht ohne oder gar gegen Russland zu lösen sein.
Ich schließe mich der Position der IPPNW an, weil diese internationale Ärztebewegung – vor mehr als 40 Jahren als ein öffentlicher Gegenpol zur damaligen Konfrontation im Kalten Krieg und der Atomkriegsgefahr zwischen den USA und der Sowjetunion mit ihren jeweiligen Blöcken entstanden – Alternativen aufzeigt. Zwar gibt es die sozialistischen Staaten nicht mehr, aber die nukleare Rüstung wurde trotzdem fortgeführt und fast alle damals zustande gekommen Abrüstungsverträge wurden (durch die USA) aufgekündigt oder nicht weitergeführt. Die IPPNW-Gründungsidee jedoch der beiden Ärzte Bernard Lown (1921 – 2021) und Jewgeni Chasow (1929 – 2021) ist aktueller denn je.
Mir geht eine Schilderung Lowns nicht aus dem Kopf: »Als sich je drei sowjetische und amerikanische Ärzte 1980 in Genf trafen, um die Grundlagen für die IPPNW zu legen, … schien es einige Male, dass wir abbrechen müssten und jede Gruppe ihren eigenen Weg geht. Wir Amerikaner sprachen das Riesenthema der Menschenrechte an, wir warfen Afghanistan und andere unangenehme Dinge auf. Aber die Russen hatten eine noch viel längere Litanei unserer Fehler – sie sprachen über ökonomische und soziale Ungerechtigkeiten, die in unserer Gesellschaft andauern, sie verwiesen auf die Unterstützung Amerikas für nahezu jedes reaktionäre und unterdrückerische Regime auf dem Erdball, auf die Finanzhilfe für Terroristen, ad Infinitum.
Wenn wir eine solche Linie der Konfrontation fortgesetzt hätten, hätten wir uns selbst im Morast des Kalten Krieges gefangen. Offensichtlich sollte jeder in den Spiegel schauen, bevor er mit dem Finger zeigt. Aber warum müssen wir Ärzte unsere Aktivitäten entlang der Ost-West-Teilung politisieren, wenn es eine Bedrohung der Öffentlichen Gesundheit zu bekämpfen gilt?«
Von der Sowjetunion unterscheidet sich das heutige Russland in seiner ökonomischen und gesellschaftlichen Struktur wesentlich. Ganz abgesehen von der aus mitteleuropäischer Perspektive kaum vorstellbaren geografischen Verkleinerung des Landes, einschließlich von etwa 25 Millionen Russen, deren Lebensort plötzlich zu Ausland geworden war. Wer nicht sehen will, welch ungeheuerliche nachwirkende Last an Opfern die Niederwerfung des faschistischen Deutschlands durch die Sowjetunion bis heute bedeutet; wer nicht sehen will, dass ihr Rückzug aus dem sich vereinigenden Deutschland ohne einen Schuss 1990 und danach wortbrüchig und nachtretend von den USA und Nato in ihrer Siegermentalität ausgenutzt wurde, dem wird es auch schwerfallen, heutige legitime Interessen dieses großen Landes zu akzeptieren.
Der Arzt Moritz Mebel (1923 – 2021), Vorstand der IPPNW-Sektion der DDR bis 1990, erlebte als Soldat in der Roten Armee die »unvorstellbaren Grausamkeiten, begangen von unseren Landsleuten«. Er kritisierte ein Jahr vor seinem Tod den deutschen Außenminister dafür, dass »deutsche Panzer im Rahmen der Nato an russischen Grenzen stehen« und von der »veröffentlichten Meinung antirussische Stimmungen geschürt« werden.
Das heutige Russland ist ein eigenartiger oligarcho-kapitalistischer Staat geworden, in dem über Jahre ein sehr kritikwürdiges ideologisches und historisches Selbstverständnis aufgebaut wurde. Auch mit falschen Geschichtsdeutungen und nationalistischen Positionen wurde und wird auf die als reale Bedrohung der Sicherheit begriffene Ost-Ausdehnung der Nato reagiert.
Das gilt ebenso für die Ukraine: Auch hier haben sich oligarchokapitalistische Strukturen herausgebildet. Millionen Ukrainer haben schon wegen dieses Krieges ihr Land verlassen; Korruption und Misswirtschaft standen und stehen einer EU-Mitgliedschaft mehr im Wege als einschlägige russische Interessen. Unterbindung der russischen Sprache, rechtliche Einschränkungen für nicht ukrainische Bürger, die Heroisierung des Nazi-Kollaborateurs und Mörders Bandera sind nicht zu akzeptierende Vorgänge.
Die IPPNW hat schon vor Jahren sowohl die aggressiven russischen Ambitionen als auch die in der Ukraine Raum greifende antirussische Politik angesprochen. Eine schon länger in der Ukraine geläufige Redewendung lautet: »Die USA und Russland bekämpfen sich bis auf den letzten Ukrainer.« Beschreibt sie nicht eigentlich den Kern dieses Krieges?
Dr. Heinrich Niemann, Jahrgang 1944, ist Sozialmediziner. Von 1986 bis 1990 war er Sekretär der DDR-Sektion der Organisation »Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges« (IPPNW) mit über 8000 Mitgliedern. Er war zweimal in Hiroshima (1989 und 2005) und bei IPPNW-Konferenzen gegen die Nukleartests in Las Vegas (1988) und Kasachstan (1990). Von 1992 bis 2006 war er Gesundheits-Bezirksstadtrat für die PDS bzw. Die Linke in Berlin.
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