Angst vor Aufgabe der Allianzfreiheit

In der Frage einer Nato-Mitgliedschaft sind Schwedens regierende Sozialdemokraten uneins

  • Regine Glaß, Göteborg
  • Lesedauer: 4 Min.
Im März besuchte Ministerpräsidentin Andersson in Norwegen die Nato-Winterkampfübung Cold Response mit schwedischer Beteiligung.
Im März besuchte Ministerpräsidentin Andersson in Norwegen die Nato-Winterkampfübung Cold Response mit schwedischer Beteiligung.

In Göteborg, der zweitgrößten Stadt Schwedens, hatten die Ukrainische Gesellschaft und das Bündnis »Stand with Ukraine« am 8. Mai einen »Counter-Victory-Tag« angekündigt, als Anspielung auf den in Russland begangenen Tag des Sieges am 9. Mai und als Referenz an den Gedenktag für die Weltkriegsopfer in der Ukraine. Nahmen hier Anfang März an ähnlichen Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine noch Hunderte Menschen teil, ist es zwei Monate später nur noch eine Handvoll Leute, die sich zur Kundgebung auf dem zentralen Göta-Platz versammelt. Und für die Schweden, die an diesem Maisonntag den Weg dorthin gefunden haben, bedeutet Solidarität mit der angegriffenen Ukraine nicht unbedingt eine künftige Nato-Mitgliedschaft des eigenen Landes. Lisa Forsberg, eine junge Supermarktmitarbeiterin, findet: »Es fühlt sich sicherer an, nicht in der Nato dabei zu sein. Mir würde es Angst machen, auf Russlands Feindesliste zu stehen. Außerdem würden wir dann an der Seite der USA kämpfen müssen, was ich nicht unterstützen kann.«

Andere sind sich da noch nicht so sicher. Die Rentnerin Maja Lindholm betrachtet interessiert vom Rande aus die Kundgebung, die nach kurzen Redebeiträgen von ukrainischer Musik unterbrochen wird. Sie weiß noch nicht, was sie über eine mögliche Mitgliedschaft in der Nato denken soll: »Am Anfang war ich noch vollkommen der Meinung, dass wir nicht dabei sein sollten. Jetzt bin ich unruhiger geworden, je mehr Krieg es gibt. Aber ich muss mich noch weiter informieren, um mir eine Meinung bilden zu können.« Information ist ein Thema, das auch den Programmierer Jakob Peyron umtreibt: »Ich mache mir Sorgen, aber ich weiß darüber noch nicht genug, um mich in dieser Frage festzulegen. Ich brauche ein breiteres Bild, am besten aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Das, was ich von Politik und Medien mitbekomme, genügt mir nicht.«

Doch es gibt auch klare Nato-Befürworter unter den Besuchern der Kundgebung: Björn Landahl, ausgestattet mit einer Ukraine-Flagge und geschmückt mit Sonnenblumen zur Demo gekommen, ist der Meinung: »Ich finde, wir sollten dabei sein, aus offensichtlichen Gründen. Wir können uns jetzt nicht vor der Verantwortung drücken.« Seine Begleiterin, die Vorschullehrerin Maria Grundel, sieht das ganz anders: »Nein, das ist nicht Schwedens Sache, sich da jetzt einzumischen.«

Uneinigkeit über diese Frage herrscht auch im schwedischen Reichstag. Die Fraktionen der bürgerlichen Parteien stehen bereits hinter einer Nato-Mitgliedschaft Schwedens. Um eine Mehrheit für ein Beitrittsgesuch zu bekommen, müsste noch eine weitere Partei zustimmen. Uneins sind sich nur noch die Sozialdemokraten, die mit Magdalena Andersson die Ministerpräsidentin an der Spitze einer Minderheitsregierung stellen. Sprachen sie sich bis vor Kurzem noch deutlich gegen eine Nato-Mitgliedschaft aus – genau wie die Linken und die grüne Umweltpartei –, vollziehen sie nun in der Sicherheitspolitik einen Kurswechsel. Am Montag sagte ihr Parteisekretär Tobias Baudin in einem Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass es bereits am 15. Mai, und damit früher als bisher geplant, zu einem Beschluss über die Nato-Mitgliedschaft kommen soll. Nach Umfragen überwiegt seit Beginn des Ukraine-Kriegs unter den Schweden erstmals das Ja zur Nato. Die Linkspartei fordert eine Volksabstimmung.

Der Staatswissenschaftler Ulf Bjereld gehört dem Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, der sich weiterhin gegen eine Nato-Mitgliedschaft ausspricht. Bis 2020 war er Vorsitzender des Zusammenschlusses religiöser Parteimitglieder »Sozialdemokraten für Glauben und Solidarität«. Im Gespräch mit »nd« beklagt er, dass der Prozess sehr schnell gegangen sei. Es habe nicht genug Zeit gegeben, um diese sicherheitspolitische Frage innerparteilich ausreichend zu diskutieren. »Ich sehe keine schwerwiegenden Argumente, die für eine Mitgliedschaft Schwedens in der Nato sprechen.« Die Gründe, die dagegen sprechen, überwiegen seiner Meinung nach: In einer Nato-Mitgliedschaft liege eine Gefahr für Schwedens Sicherheit und Demokratie. Schweden begebe sich damit in die unsichere Gesellschaft von Ländern wie Ungarn und der Türkei. Und in die der USA, in der Ex-Präsident Donald Trump immer noch eine wichtige Stellung in der politischen Rechten habe.

Sollte sich die sicherheitspolitische Lage für Schweden verändern, wäre auch Bjereld bereit, seine Position zu überdenken. Doch im Moment sieht er dafür keinen Grund. Stattdessen die Gefahr, dass Schwedens politisch vermittelnde Rolle leiden würde, und ein Dilemma: »Auch wenn wir formell immer noch handlungsfähig wären: Unsere bisherige militärische Strategie würden wir unglaubwürdig machen, wenn wir auf einmal die nukleare Abschreckung mittragen.«

Damit steht Bjereld in seiner Partei nicht allein: Auch die sozialdemokratische Frauenorganisation »S‑Kvinnor« ist gegen eine schwedische Nato-Mitgliedschaft. Ihre Begründung stützt sich auf die lange Historie als allianzfreies Land. Annika Strandhäll, Ministerin für Klima und Umwelt, leitet die sozialdemokratischen Frauen. Die Tageszeitung »Svenska Dagbladet« zitierte sie: »Wir haben uns in unserem Vorstand darauf geeinigt, dass Schweden allianzfrei, also außerhalb der Nato bleiben sollte.« Illustriert wurde der Bericht manipulativ mit einem Foto, das die Politikerin unvorteilhaft mit einem panischen Gesichtsausdruck zeigt. Gegen eine Nato-Mitgliedschaft bezieht auch die sozialdemokratische Jugendorganisation SSU Stellung. Die Verteidiger der schwedischen Allianzfreiheit dürften auf verlorenem Posten stehen.

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