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Lass uns über Sex reden

Politische Fragen der Fotografie: Im Berliner C/O stellen Bieke Depoorter und Susan Meiselas ihre anspruchsvollen Arbeiten aus

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.
Das berühmteste Foto von Susan Meiselas: Ein Sandinist wirft 1979 einen Molotowcocktail aif das Hauptquartier der Nationalgarde in Estelí
Das berühmteste Foto von Susan Meiselas: Ein Sandinist wirft 1979 einen Molotowcocktail aif das Hauptquartier der Nationalgarde in Estelí

Den 75. Geburtstag der internationalen Fotoagentur Magnum, 1947 von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, George Rodger and David »Chim« Seymour gegründet, hätte das Ausstellungshaus für Fotografie und visuelle Medien C/O Berlin kaum besser feiern können als mit den zwei kürzlich eröffneten Ausstellungen von Bieke Depoorter und Susan Meiselas.

Depoorter, 1986 in Belgien geboren und seit 2016 Vollmitglied bei Magnum, setzt sich mit den von ihr porträtierten Menschen lange und intensiv auseinander. Die Ausstellung zeigt zwei ihrer Porträterzählungen zu dem spurlos verschwundenen Michael aus Portland und der polnischen Sexarbeiterin Agata in Paris. Agata, die Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte studiert hat, bevor sie als Sexarbeiterin und Performerin zu arbeiten begann, gewährte Depoorter einen intimen Einblick in ihr Leben, sowohl bei der Arbeit als auch in ihre Privatsphäre.

Hierfür mussten beide, die Fotografin und die von ihr Porträtierte, jeweils ihre persönlichen Grenzen überschreiten. Agata wollte unbedingt auch bei der Sexarbeit gezeigt werden, während dies für die Fotografin ein Tabu war. Erst als Agata ihr vorwarf, damit einen wichtigen Teil ihrer Person zu unterdrücken, willigte Depoorter ein. In der über vier Jahre andauernden und nicht konfliktfreien Kooperation entwickelte sich eine enge Freundschaft mit gemeinsamen Reisen. Es entstand ein Briefwechsel, in dem aufschlussreich über Macht, Tabu, Ausbeutung, Repräsentation, Identität, Gesellschaft und Moral reflektiert wird.

Um die Macht der Fotograf*innen gegenüber den Fotografierten sowie die Problematik von Besitz und Verwertung der Bilder geht es auch Susan Meiselas, was diese beiden Ausstellungsprojekte kongenial miteinander verbindet. Meiselas, die 1948 in Baltimore geboren wurde, absolvierte ein Pädagogik-Studium an der Harvard University und lebt seit den frühen 70er Jahren in New York, wo sie 1976 als eine der bis dato wenigen Frauen Mitglied bei Magnum wurde. Spektakulär ist ihr in der Zeit von 1972 bis 1975 entstandener Fotoessay über die Stripperinnen auf Jahrmärkten im Nordosten der USA. Es war eine Herausforderung für eine feministisch geprägte Fotografin. Auch sie stellte eine Beziehung her zu den Sexarbeiterinnen und hat deren Einstellungen und Lebensentwürfe in Interviews erfragt. Über mehrere Jahre blieb Meiselas mit den Stripperinnen in Kontakt und lud sie auch zu den Ausstellungen ein.

International bekannt wurde Meiselas durch ihre Arbeit über die Befreiungsbewegungen in El Salvador und Nicaragua. Ihr vielleicht berühmtestes Foto zeigt den kämpfenden Molotow-Mann, der zur Ikone der sandinistischen Revolution wurde und auf vielen Magazincovern, Streichholzschachteln, Flugblättern und Postern landete. Der Sandinist hat in der linken Hand ein Gewehr und in der rechten einen entzündeten Molotowcocktail. Die Kamera hat exakt den Augenblick eingefangen, als er für den Wurf auf das Hauptquartier der Nationalgarde in Estelí ausholt. An seinem Hals ist das christliche Kreuz an einer Perlenkette deutlich erkennbar.

Für die Kirche der Befreiung war dies ein visueller Anknüpfungspunkt für die affirmative Rezeption des Bildes. Sogar die Konterrevolution nutzte das Motiv: zur Anprangerung der Gewalt und für den Sturz der Sandinisten. Was aus der sandinistischen Revolution unter der diktatorischen Herrschaft Daniel Ortegas wurde, ist so bekannt wie traurig. Seit 40 Jahren dokumentiert die Fotografin die Nutzung ihres berühmten Motivs. Hierfür kehrte sie auch nach Nicaragua zurück, um den Protagonisten zu interviewen.

In einem separaten Raum geht Meiselas den komplexen Fragen der Verwertung solcher Aufnahmen nach und untersucht deren Kontextualisierung in den Medien. Sehr früh interessierte sie sich für Fotografien als Speichermedium von Geschichte und damit auch für die Identitäten der Fotografierten. Sie fragt nach der Verfügungsgewalt über die Fotos. Oft liegt sie nicht bei den Protagonist*innen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war der Angriff auf eine oppositionelle Zeitung in Nicaragua während des Kampfes gegen den Dikatator Anastasio Somoza. Dabei kam es zur Auslöschung eines wichtigen Bildarchivs, was als Bildverlust eines ganzen Volkes empfunden wurde.

Meisela beschäftigt sich mit politischen Fragen der Fotografie, über ihre eigenen Arbeiten hinaus. In einer Recherchearbeit über die Geschichte der Kurd*innen, die nicht nur in der Türkei unterdrückt und verfolgt werden, zeigt sie Bilder aus den verschiedenen historischen Phasen der Kurd*innen, die sie bei ihren Besuchen fand. Sie ermittelt die Entstehungsgeschichte der Aufnahmen und versucht, die Fotograf*innen zu identifizieren, um sie so dem Vergessen zu entreißen.

Bieke Depoorter: »A Chance Encounter« und Susan Meiselas: »Mediations«, beide Ausstellungen bis zum 9.9. im C/O Berlin, Hardenbergstraße 22–24

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