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Wilde Isel

Eine Fünf-Tage-Wanderung entlang des letzten frei fließenden Gletscherflusses von ganz Österreich

  • Christiane Flechtner
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine metallene Pyramide markiert als Wahrzeichen den Iseltrail an den Ursprüngen des Flusses.
Eine metallene Pyramide markiert als Wahrzeichen den Iseltrail an den Ursprüngen des Flusses.

Sie ist schon immer da – jedenfalls seit Tausenden von Jahren. Hat die Landschaft im Laufe der Zeit geprägt, mit Schluchten, Felsen und glatten Sandbänken. Die Isel, der letzte frei fließende Gletscherfluss Österreichs, wird aus der Zunge des Gletschers Umbalkees geboren – inmitten einer arktischen Landschaft im Nationalpark Hohe Tauern. Dem Gipfel der majestätischen Rötspitze ganz nah, bricht sie brodelnd unter dem Gletscher hervor. Dann bahnt sich der noch junge Fluss seinen Weg hinab ins Tal und übertönt dabei alle anderen Geräusche durch sein konstantes Rauschen.

Ein Fels an der Mündung in die Drau ist Startpunkt des Wanderpfades namens Iseltrail, der im Jahr 2020 eingeweiht wurde. Gelbe Schilder weisen den Weg, Schritt für Schritt geht es nun – im Einklang mit dem Fluss – zu dessen Ursprung. Fünf Tage sind plötzlich ein ganzes Leben, das Leben des Flusses. Und Zeit bekommt eine ganz andere Bedeutung.

Die erste Etappe führt gemütlich rund 17 Kilometer die Isel entlang – durch die Sonnenstadt Lienz. Es scheint, als wolle das Schloss Bruck von oben Hallo sagen. Dann ist die Stadt verschwunden, es dominiert das Grün.

Die Isel hat allen Eingriffen der Zivilisation widerstanden. Durch das breite Flussbett konnten sich hier Lebensräume entwickeln, die anderswo in Europa längst verschwunden sind. Fischotter und die als Huchen bekannten Donaulachse haben hier ein Zuhause gefunden, und auch die seltene Deutsche Tamariske wächst an vielen Stellen: Der Rispelstrauch taucht mit seinen Blüten das Iselufer in zartes Rosa.

Fast wäre diese Landschaft zerstört worden: »1971 standen Pläne für den Bau eines hydroelektrischen Speicherkraftwerks in Osttirol im Raum«, sagt Nationalpark-Ranger Andreas Angermann. Das Kraftwerk sollte die Gletscherflüsse in einen Stausee umleiten. Doch engagierte Umweltschützer, ein damals niedriger Strompreis und sehr unterschiedliche Wasserstände des Flusses – wenig Wasserführung der Isel im Winter sowie extreme Mengen an Gletscherwasser mit Gesteinsmehlanteil im Sommer – ließen das Projekt sterben. Ein Segen für Flora und Fauna an der Isel: »Ich bin froh darüber, denn durch die Zwischenspeicherung des Wassers für das Kraftwerk wären die natürlichen Schwankungen des Wasserstandes weggefallen und Abläufe ver- und behindert worden«, sagt Andreas Angermann. So ist das Naturjuwel geblieben – und Wanderfans können es in seiner ganzen Wildheit genießen.

Die Etappen zwei und drei von St. Johann im Walde nach Prägraten am Großvenediger verlaufen auf rund 30 Kilometer fast ausschließlich neben dem lebendigen Fluss. Bald wird das Tal enger, und die Stromschnellen bei Feld sind die ersten Vorboten der kraftvollen, alpinen Isel im Oberlauf. Je näher es zur Geburtsstätte des Flusses geht, desto beeindruckender die Naturgewalten: Bei den Umbalfällen stürzt die Isel mit enormem Getöse in die Tiefe. Gischt umhüllt die Wanderer, die auf dem »Wasserschaupfad« mit dem Fluss auf Tuchfühlung gehen können. 

Weiter oben macht die Zivilisation der rauen Natur Platz. Schneefelder und Wildblumen wechseln sich ab, dazwischen pfeifen die Murmeltiere. Während in der Clarahütte die Jacken über dem Ofen trocknen, singt Hüttenwirtin Karin »Don’t worry, be happy«. Zwei Gitarren, das passende Lied, und Fremde werden zu Freunden. Am nächsten Morgen scheinen die Dreitausender zum Greifen nah, und die alpine Wildnis zeigt sich mit ihrer Farbenpracht: Wie ein weiß-türkises Band durchzieht die Isel Blumenteppiche. Die Rost-Alpenrosen leuchten mit dem Blau des Enzians um die Wette.

Auf Etappe fünf haben die Wanderer die letzte größere Steilstufe zu überwinden, die vor wenigen Jahrzehnten noch vom Gletscher bedeckt war – und dann sind sie mitten in der arktischen Klimazone. Am Gletschersee vorbei, taucht das pyramidenförmige Wahrzeichen als Endpunkt des Iseltrails auf – dahinter thronen der imposante Gletscher Umbalkees und die Dreiherrenspitze. Freude und Wehmut zugleich – denn alle können sehen, wie weit der Gletscher zurückgegangen ist. Die Gefahr, die der Isel droht, ist der Klimawandel. Denn verschwindet der Gletscher, verschwindet auch der Fluss.

Aber noch ist sie da – und begeistert mit ihrer ganzen Wildheit. Auf den fünf Etappen ist man Zeuge ihres Lebensweges vom eisigen Geburtsort bis zu ihrem Ende, der Mündung in die Drau. Und wer ihn geht, wird eins mit dem Fluss und kommt verändert nach Hause zurück.

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