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»Sie haben mir nur den Tod erspart«
Mali kommt nicht zur Ruhe. Dabei wünschen sich die Menschen vor allem Stabilität im Land
Der junge Mann wirkt zerbrechlich. Das liegt nicht nur daran, dass seine schmal geschnittene schwarze Trainingshose schlabbert, als gäbe es darunter kaum einen Körper. Es liegt auch daran, dass er schon nach wenigen Sätzen zu weinen anfängt. Eine Pause oder gar den Abbruch des Gesprächs lehnt der junge Malier trotzdem ab. Er habe über das, was vor gut zwei Jahren vorgefallen sei, bisher noch nie sprechen können. Jetzt wolle er reden, trotz aller Angst. Es geht um einen Übergriff der malischen Armee auf sein Heimatdorf im Zentrum von Mali. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International werfen den malischen Sicherheitskräften seit Jahren schwere Übergriffe gegen die Bevölkerung vor. In den vergangenen Monaten wurde darüber international häufiger berichtet.
Grund dafür ist die Präsenz russischer Soldaten in Mali und die dadurch ausgelöste Debatte über die Fortsetzung zweier internationaler Militärmissionen in dem Land, an denen sich die Bundeswehr beteiligt. Ende des Monats laufen die Mandate für beide Einsätze aus. Vor allem die Präsenz russischer Kämpfer hat zu Kritik an der UN- und der EU-Mission geführt. Seit Ende 2021 sind russische Soldaten in Mali, rund 1000 sollen es sein. Mehrere westliche Regierungen sind davon überzeugt, dass unter den Bewaffneten auch Söldner des berüchtigten Kreml-nahen Militärunternehmens Wagner sind. Die militärische Übergangsregierung in Malis Hauptstadt Bamako bestreitet das.
Das Verhältnis zu Frankreich zerrüttet
Ihr Verhältnis zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die noch bis vor kurzem Malis wichtigster Partner in Sicherheitsfragen war, ist mittlerweile zerrüttet. Frankreich agierte unabhängig von der UN-Mission Minusma in Mali und konzentrierte sich auf den Kampf gegen mutmaßliche islamistische Terrorgruppen. Aufgaben der UN-Mission Minusma sind dagegen die Stabilisierung Malis, die Umsetzung eines Friedensvertrags von 2015 und der Schutz der Zivilbevölkerung. Die Bundeswehr war außerdem an einer militärischen Ausbildungsmission der EU beteiligt. Nach der Kabinettsvorlage von Mitte vergangener Woche möchte die Bundesregierung den UN-Einsatz in Mali weiter unterstützten, und das in Zukunft sogar mit noch mehr Soldaten. Statt 1100 soll die Mandatsobergrenze künftig 1400 Personen betragen. Die Beteiligung an der EU-Ausbildungsmission, die auch die Europäische Union nicht in der jetzigen Form fortsetzen will, soll nach dem Willen des Kabinetts beendet werden. Der Bundestag muss noch zustimmen.
Der Name des jungen Mannes, der nun über ein Massaker der malischen Armee reden möchte, soll aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden, hier heißt er Adamu Magadji. Vor gut zwei Jahren lebte der 27-Jährige noch mit seiner Familie in einem Dorf in der Nähe des Ortes Mondoro im Zentrum von Mali. Am Morgen gegen sechs habe er seiner chronisch kranken Mutter wie immer ihre Medikamente gegeben, traditionelle Medizin, die jeden Tag sehr früh verabreicht werden müsse. Während er bei seiner Mutter saß, hörte er draußen erst Schritte, dann Schüsse. »Die Armee hat das Dorf umstellt, viele Menschen verhaftet und drauflos geschossen«, schafft Magadji zu erzählen. Zwischendurch hätten sie immer wieder geschrien: »Hier wohnen schlechte Menschen!«
Gemeint war vermutlich der Vorwurf, die Dorfbewohner seien Sympathisanten oder Mitglieder einer der vielen bewaffneten islamistischen Gruppen. Auslöser dieser Verdächtigung ist wahrscheinlich die Tatsache, dass die Männer zum Volk der Fulbe gehören. Ein radikaler Prediger namens Amadou Koufa rekrutiert vor allem Anhänger seines Volkes, der Fulbe. Koufas Gruppe, Katiba Macina, ist mit dem Terrornetzwerk Al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen in Mali verbündet. Immer wieder kritisieren Menschenrechtsorganisationen und Vereinigungen der Fulbe, Mitglieder der Volksgruppe stünden deshalb bei Regierung und Armee unter Generalverdacht.
»Die Soldaten haben überhaupt nicht darauf geachtet, wen sie vor sich haben«, erzählt Magadji. »Für sie waren wir alle gleich.« Am Ende hätten 23 Menschen tot auf dem Boden gelegen, darunter seine Mutter, seine Frau, ihr gemeinsames Kind und sein Zwillingsbruder. Er selbst habe zwischen Leichen am Boden gelegen und sich leblos gestellt. »Die Soldaten gingen zwischen ihren Opfern herum und überprüften, ob sie wirklich tot waren. Wer noch lebte, dem schossen sie eine Kugel in den Kopf.« Warum sie ihn aussparten, weiß er nicht. Magadji zieht den linken Ärmel seines T-Shirts hoch und zeigt auf eine Narbe: »Mich hat die Kugel nur am Arm getroffen.«
Schließlich hätten die Soldaten ihn und andere Überlebende mitgenommen. In zwei verschiedenen Gefängnissen sei er noch sieben Monate lang festgehalten und gefoltert worden. »Es gibt nichts, was sie mir nicht angetan haben«, sagt Magadji. »Das Einzige, was sie mir erspart haben, ist der Tod.« Im Oktober 2020 wurde er freigelassen. Seitdem versucht er, mit dem Überleben klarzukommen.
Wenige Tage nach dem Gespräch versammeln sich in Bamako etliche Aktivistinnen und Aktivisten. Es ist gegen 15 Uhr und noch heiß, die ersten Teilnehmenden rücken sich ein paar Stühle in der Durchfahrt zu einem Hinterhof zurecht, hier ist es etwas kühler. Die Männer und Frauen, die nacheinander eintreffen, sind zu früh, erst um 16 Uhr soll die Versammlung der Bewegung Yerewolo Debout sur les remparts beginnen. Deren Präsident Adama Ben Diarra gilt als einer der derzeit einflussreichsten Aktivisten in Mali und ist ein scharfer Kritiker Frankreichs. Er hat in den vergangenen Jahren etliche Demonstrationen gegen die damals noch zivile Regierung und gegen deren mächtigsten Partner Frankreich mit organisiert.
Monatelange Proteste
Der Zuspruch war gewaltig, denn die Bevölkerung fühlte sich von der korrupten Elite ausgebeutet. Vor allem aber: Die Sicherheitslage verschlechterte sich zunehmend, islamistische Gruppen weiteten ihren Einfluss aus, ethnische Konflikte kamen hinzu. Ganze Dörfer wurden abgebrannt, Hunderte Menschen grausam getötet. Armee und Regierung waren offenbar nicht willens oder nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. Auch Frankreich nicht, das die Anti-Terroroperation Barkhane unterhielt. Die Wut der Malierinnen und Malier stieg, bis im August 2020 die Armee erstmals putschte und dann noch einmal wenige Monate später. Die Bevölkerung steht mehrheitlich hinter dem Putsch, begrüßte auch das Ende der französischen Militäroperation.
Diarra nutzt die Zeit bis zum Beginn der Versammlung, um mit einigen Mitstreitern noch schnell etwas zu essen. Sie teilen ein Baguette, tunken ihr Brot gemeinsam in eine Schüssel mit Fleisch und Soße. Er ist Mitglied des malischen Übergangsparlaments. Die EU und die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas haben ihn mit gezielten Sanktionen belegt. Die EU wirft ihm vor, das Abhalten freier Wahlen zu behindern. Das Übergangsparlament unterstützt die militärische Übergangsregierung, die bis zu fünf Jahre im Amt bleiben will. Von den vielen Vorwürfen gegen die malische Armee und gegen russische Sicherheitskräfte hat Diarra durchaus schon gehört.
»Das ist die alte Leier, für uns sind diese Vorwürfe des Westens nicht neu«, meint er mit fast schleppender Stimme. »Überall da, wo der Westen nicht am Drücker ist, spricht er von Übergriffen der Armee gegen die Zivilbevölkerung.« Diarra sieht darin bewusst lancierte Versuche Frankreichs, den Ruf der malischen Armee und ihrer russischen Partner zu beschädigen. »Die Vorwürfe sind aus der Luft gegriffen.«
In den Berichten von Überlebenden klingt das ganz anders. Zwei von ihnen konnten nach eigenen Angaben im Anschluss an das Massaker in dem Ort Moura im Zentrum Malis nach Bamako fliehen. Dort wurden nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zwischen Ende März und Anfang April bis zu 300 Menschen getötet. An dem Massaker seien auch russische Kämpfer beteiligt gewesen. Die malische Armee hatte nach den Schüssen in Moura gemeldet, sie habe 200 islamistische Kämpfer getötet.
Weiße Soldaten mordeten
Die beiden Überlebenden heißen hier Adama Cissé und Boubacar Diallo. Beide erzählen von fünf Militärhubschraubern, mit denen am 27. März, einem Markttag, weiße Soldaten nach Moura gekommen seien. Die Weißen hätten eine fremde Sprache gesprochen, jedenfalls nicht Französisch. Vier Hubschrauber seien gelandet, einer sei in der Luft geblieben, erinnert sich Cissé. »Die Besatzung des Hubschraubers, der in der Luft stehen blieb, hat auf alle geschossen, die zu fliehen versuchten.« Dann hätten die malischen und die weißen Bewaffneten den Ort umstellt. »Die Weißen sind von Haus zu Haus gegangen und haben jedes nach Männern durchsucht«, berichtet Diallo. »Es waren viel mehr weiße als malische Soldaten.« Cissé schätzt die Zahl der Gefangenen auf 4000, nach und nach seien aber einige wieder frei gelassen worden.
Die Männer seien in Gruppen aufgeteilt und festgehalten worden. »Ich habe gesehen, wie die weißen Bewaffneten einzelne Männer absonderten und sie dann exekutierten«, erzählt Cissé. Die malischen Soldaten hätten die Gefangenen bewacht, die Weißen hätten die Opfer ausgewählt und erschossen. Ob es sich um russische Soldaten oder Söldner der berüchtigten Wagner-Gruppe handelt, können weder Cissé noch Diallo sagen.
Die rund 20 Augenzeugen, mit denen die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch gesprochen hat, berichteten laut Westafrika-Direktorin Corinne Dufka den gleichen Ablauf. Unter den Verhafteten und Exekutierten befanden sich laut Dufka sowohl Dorfbewohner als auch Hunderte von Händlern, die an diesem Sonntag auf den Markt gekommen waren. »Die Exekutionen gingen Tag und Nacht weiter«, erzählt Cissé. »Alle zehn Minuten hörten wir Schüsse.«
Insgesamt wurden laut Human Rights Watch etwa 300 Menschen getötet. »Die genaue Zahl weiß niemand«, meint Diallo. »Ich allein habe mehr als 200 Leichen gezählt.« »Die Zeugen glauben, dass es sich bei den weißen Soldaten um Russen handelt, weil die malische Regierung im Dezember die Entsendung von Gruppen russischer Ausbilder angekündigt hatte«, ergänzt Dufka, »um die malische Armee im Kampf gegen die bewaffneten Islamisten zu unterstützen«.
Bislang ist unklar, wie viele der Toten Zivilisten waren und wie viele tatsächlich einer der islamistischen Terrorgruppen angehörten, die in Mali gegen die Regierung und gegen die Armee kämpfen. »Natürlich haben bei uns auch Islamisten gelebt«, sagt der Überlebende Cissé. »Wir kannten sie, weil sie nie ein Geheimnis daraus gemacht haben.« Es seien aber sehr wenige gewesen, »unter 100 Menschen waren vielleicht sechs Islamisten«. Er und Diallo können sich nicht vorstellen, wieder nach Hause zurückzugehen – aus Angst, dass sie einem nächsten Massaker nicht entkommen würden.
In Mali werden derlei Berichte von vielen erstaunlich wenig ernst genommen. Das gilt auch für Boubacar Bocoum. Er ist Präsident einer noch jungen politischen Partei und Analyst am malischen »Zentrum für Strategische Studien«. »Derlei Übergriffe werden in einem Krieg auch Kollateralschäden genannt«, stellt er fest. »Man kann so etwas nicht verhindern, aber wo ist das Problem? Entscheidend ist am Ende die Bilanz: Hat die Militäroperation mehr Positives oder mehr Negatives bewirkt? Allein darauf kommt es an.« Eine fast verstörende Reaktion auf den vielfachen Mord an Zivilisten. Natürlich repräsentiert Boubacar Bocoum nur einen Teil der Bevölkerung, aber eine völlige Außenseitermeinung vertritt er auch nicht. Es scheint, als ersehne die malische Bevölkerung derzeit vor allem eins: Stabilität. Und das womöglich um jeden Preis.
Sogar Adamu Magadji, der seine Familie verloren hat, zeigt eine gewisse Nachsicht gegenüber der Armee. Auf die Frage, wie er die militärische Übergangsregierung sieht, wo doch eben diese Armee seine Familie getötet und ihm so viel Leid angetan hat, sagt er: »Was geschehen ist, ist geschehen. Ich hoffe bloß, dass das Regime sich ändert und von nun an keine Verbrechen mehr begeht.« Ob er je daran gedacht habe, gegen Vertreter der Armee zu klagen und Entschädigung zu fordern? Magadji reagiert fast erstaunt. »Wir sind Dorfbewohner«, sagt er. »Ich habe noch nie davon gehört, dass wir gegen die zivilen oder militärischen Autoritäten klagen können.« Zudem habe er viel zu viel Angst, sich mit dem Staat anzulegen. Und das nicht erst seit dem Militärputsch: Das Massaker in seinem Dorf wurde noch zu Zeiten der formal demokratischen Regierung verübt.
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