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- Armut und Corona-Pandemie
Solidarität statt Ellenbogenmentalität!
Nur wenn Rücksicht auf Kranke und Alte genommen wird, kann eine Gesellschaft mit einer Pandemie fertigwerden, meint Christoph Butterwegge.
Bereits im ersten Corona-Lockdown zeigte sich, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt. Daraus wurden aber nur insofern Schlussfolgerungen gezogen, als der Staat große »Rettungsschirme« für Unternehmen aufspannte und bestimmten Personengruppen finanzielle Hilfen zukommen ließ. Maßnahmen der Umverteilung von oben nach unten blieben aus, obwohl ganz Reiche während der Covid-19-Pandemie noch reicher, die Armen jedoch zur selben Zeit noch zahlreicher geworden sind.
Ohne die Transferleistungen des Sozialstaates – zum Beispiel das Kurzarbeitergeld – wären erheblich mehr Menschen während der Rezession an den Rand des Ruins geraten. Es war außerdem richtig, dass der Bezug von Arbeitslosengeld II für von der Coronakrise gebeutelte Soloselbstständige vorübergehend erleichtert wurde, indem man für sie die strenge Vermögensprüfung aussetzte und die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte. Warum sollte diese Regelung keine Dauerlösung und kein Vorbild für weitere Schritte zur Entbürokratisierung des Sozialstaates und zur Vereinfachung des Antragsverfahrens in der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein?
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Am 18. Mai erscheint sein Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ bei Beltz Juventa.
Soloselbstständige, Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler sowie Honorarkräfte gehörten nicht bloß zu den existenziell von der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Verwerfungen mit am stärksten Betroffenen, sondern auch zu den besonders gefährdeten Gruppen, die der bestehende Sozialstaat kaum zu schützen vermochte. Daher müssen sie baldmöglichst in eine solidarische Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung aufgenommen werden.
Kleinstrentnerinnen und -rentner sowie Studierende, die mit ihrem regulären BAföG-Satz nicht auskamen und keine Unterstützung durch ihre Eltern genießen, verloren wegen des Lockdowns, Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob, der ihren Lebensunterhalt bis dahin gesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II beantragen konnten, waren Geldmangel und sogar Studienabbrüche die Folge. Hieraus sollte der Schluss gezogen werden, dass Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden müssen.
Menschen, die durch sämtliche Maschen des bestehenden Systems der sozialen Sicherung fallen, dürfen nicht in Wohnungslosigkeit, Überschuldung, Insolvenz und andere existenzielle Bedrängnisse geraten. Nötig wäre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf Personen, die Unterstützung benötigen, um in Würde leben und überleben zu können. Das gilt für prekär Beschäftigte, Leiharbeiter, Randbelegschaften ebenso wie für Soloselbstständige und manche Freiberuflerinnen und Kleinunternehmer, die über zu geringe finanzielle Rücklagen verfügen, um eine ökonomische Durststrecke überstehen zu können.
Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsdienste haben sich als systemrelevant erwiesen. Krankenschwestern, Altenpfleger und Pflegehilfskräfte, die besonders schlecht bezahlt werden, galten auf dem ersten Höhepunkt der Covid-19-Pandemie als »Helden des Alltags«, ohne dass man ihr Gehalt wesentlich erhöht und ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen verbessert hätte. Verhindert werden muss, dass Finanzinvestoren immer mehr Krankenhäuser sowie Senioren- und Pflegeheime übernehmen, die aufgrund der kollektiven Alterung unserer Gesellschaft im demografischen Wandel hohe Renditen versprechen. Betreiber solcher Einrichtungen drücken die Löhne und verringern das Personal, was zu einer weiteren Arbeitsverdichtung führt.
Eine neoliberale Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik, die den Markt und nicht die Menschen in den Mittelpunkt rückt, zerstört auf Dauer unser Gemeinwesen. In der pandemischen Notsituation zeigte sich, dass Solidarität der Bevölkerungsmehrheit eher nützt als Wettbewerbswahn und Ellenbogenmentalität. Nur wenn Rücksicht auf Kranke, Immunschwache und Alte genommen wird, kann man eine Pandemie bewältigen.
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