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Vergesellschaftung – mehr als nur enteignen
Demokratische Kontrolle der Bewirtschaftung der Wohnungsbestände ist elementarer Teil der Sozialisierungsinitiative
Erst hat sie provoziert, dann hat sie überzeugt: Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen hat seit ihrem ersten Auftritt im April 2018 nicht nur die Eigentumsfrage gestellt, sondern Antworten gegeben und Mehrheiten gewonnen. Nicht Verstaatlichung, sondern Vergesellschaftung ist das Konzept, mit dem die Wende in der Wohnungswirtschaft gelingen soll. Doch was ist damit gemeint?
Eine Idee aus der Gründerzeit der Republik
Der Berliner Volksentscheid für eine Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne war ein politisches Erdbeben. Eine Million Menschen, insgesamt 59,1 Prozent der gültigen Stimmen, votierten im September 2021 dafür, die Wohnungsbestände von profitorientierten Großvermietern mit über 3000 Wohnungen in Berlin in Gemeineigentum zu überführen. Ein solch eindeutiges Ergebnis hat es seit den Gründerjahren der Bundesrepublik nicht mehr gegeben – damals sprachen sich auch in Westdeutschland die Wählerinnen und Wähler quer durch alle Schichten für Sozialisierungen aus. So befürworteten 1946 bei einer Volksabstimmung 72 Prozent der Bevölkerung die Aufnahme des Artikels 41 über Sozialisierungen in die hessische Verfassung.
Auch der in Berlin abgestimmte Beschluss beruft sich auf eine Bestimmung aus den Jugendjahren der Republik: Artikel 15 des Grundgesetzes. Der erlaubt die Überführung von Produktionsmitteln, aber auch von Grund und Boden in Gemeineigentum – »zum Zwecke der Vergesellschaftung«. Es geht darum, ein lebenswichtiges Gut nicht dem freien Markt zu überlassen, sondern gemeinwohlorientiert zu bewirtschaften. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes übernahmen diesen Artikel aus der Weimarer Verfassung von 1919. Seine Aktualisierung 1949 war im Wesentlichen ein Verdienst der Sozialdemokratie, doch auch in der CDU und der CSU gab es viele Befürworter der Gemeinwirtschaft. Sie aktualisierten einen Verfassungskompromiss, der bis auf die Kämpfe der Novemberrevolution zurückgeht: Wie schon die Weimarer Verfassung garantiert das Grundgesetz das private Eigentum, erlaubt aber die Enteignung einzelner Besitztümer zum Wohle der Allgemeinheit wie auch die Vergesellschaftung ganzer Wirtschaftszweige. Die Wirtschaftsform unserer Bundesrepublik wurde damit, so bestätigte das Bundesverfassungsgericht in späteren Urteilen, bewusst offengelassen.
Wie geht Gemeinwirtschaft?
Was Privatisierung ist, weiß heute jeder: Öffentliches Eigentum wird an irgendwen verkauft, der hinterher damit machen kann, was er will. Doch was bedeutet die im Grundgesetz als Ergebnis von Vergesellschaftung genannte Überführung in »Gemeingut« oder »andere Formen der Gemeinwirtschaft«?
Bis in die 1980er-Jahre war Gemeinwirtschaft für viele Menschen noch Alltag. Nicht nur Wohnungen, sondern auch Versicherungen, Reisen und Lebensmittel wurden von gemeinwirtschaftlichen Marktteilnehmern angeboten. Diese Betriebe hatten sich aus Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung oder aus gewerkschaftlichen Eigenbetrieben entwickelt. Die Versicherung gab es bei der Volksfürsorge, die Wohnung bei der Neuen Heimat, den Lebensmitteleinkauf bei Coop. Gemeinwirtschaftliche Betriebe gehörten entweder den Gewerkschaften oder den Mitgliedern einer Genossenschaft. Die mehrheitlich gewerkschaftseigene Bank für Gemeinwirtschaft etwa verwaltete die deutschen Gewerkschaftsfinanzen, damit nicht irgendein Kapitalist aus der Streikkasse noch Profit ziehen konnte. Sie tat dies erfolgreich mit 6 bis 10 Prozent Dividende in den 1950er-Jahren.
Von den westdeutschen Gewerkschaften wurde dieses Modell nicht nur als Geldquelle, sondern als Gegenpol zur Profitwirtschaft hochgehalten, gleichzeitig galt es als demokratische Alternative zum Staatssozialismus der DDR. Doch in den 1980ern gerieten viele gemeinwirtschaftliche Betriebe in eine Krise. Die demokratische Beteiligung war eingeschlafen, nach Kapitalkonzentrationen in der Privatwirtschaft konnten manche gemeinwirtschaftlichen Betriebe im Wettbewerb kaum noch mithalten. Der Effizienz halber wurde etwa die Neue Heimat zu einer großen konzernähnlichen Holding zusammengefasst – und an die Wand gefahren. Statt einer Sanierung entschieden sich DGB und Einzelgewerkschaften für die Privatisierung. Nach einem Veruntreuungsskandal bei der Neuen Heimat 1982 wurden gemeinwirtschaftliche Betriebe schrittweise abgewickelt. Die Gewerkschaften waren damals froh, ein vermeintliches finanzielles Risiko loszuwerden. Wenig später zeigte sich jedoch, dass damit auch ein Prinzip verlorenging: Als 1989 der Staatssozialismus zerbrach, hatten Gewerkschaften und Sozialdemokratie kein ökonomisches Gegenmodell mehr vorzuweisen. Ohne gelebte Systemalternative zwischen Zentralverwaltungswirtschaft und totalem Markt gelang es der Kohl-Regierung, die letzten Reste gemeinwirtschaftlicher Regulierung im vereinten Deutschland geräuschlos zu beseitigen. So entfiel etwa die Wohnungsgemeinnützigkeit, die bis 1990 nicht profitorientierten Vermietern Steuervorteile gesichert hatte. Dieser Schritt begünstigte eine Entpolitisierung und Marktorientierung der bis dato erfolgreichsten gemeinwirtschaftlichen Akteure: der Wohnungsgenossenschaften. Anders als die durch Managementfehler ruinierte Neue Heimat hatten sie alle Wirtschaftskrisen gut überstanden, denn Wohnraum wurde immer gebraucht. Selbst die ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften, die dank des Altschuldenhilfe-Gesetzes ab 1990 ihre einst in Ostmark gewährten Kredite und Subventionen plötzlich in D-Mark zurückzahlen mussten, konnten sich bald sanieren. Obwohl Genossenschaften somit bis heute demonstrieren, dass Gemeinwirtschaft mit Wohnungen glänzend funktioniert, sehen sich viele nicht mehr in dieser Tradition. Sie begreifen sich als Unternehmen am Markt, weil ihnen ihre alte soziale Idee abhandenkam. Doch eine Gegenbewegung ist sichtbar – auch Genossenschaftsmitglieder beteiligten sich von Beginn an in der Berliner Vergesellschaftungsbewegung. Der Versuch von CDU und einigen Genossenschaftsdachverbänden, Genossenschaftsmieterinnen und -mieter gegen den Volksentscheid zu mobilisieren, scheiterte kläglich – gerade in Bezirken mit vielen Genossenschaftsbauten wie Marzahn-Hellersdorf errang Vergesellschaftung deutliche Mehrheiten.
Renaissance der Vergesellschaftung
Während Genossenschaften nach 1990 ihre Mieterinnen und Mieter mit günstigem Wohnraum versorgen konnten und ihnen bis heute ein lebenslanges Wohnrecht gewähren, geschah am Markt das Gegenteil. Aus Privatisierungen von kommunalen, staatlichen und betrieblichen Wohnungsbeständen entstanden in den 2000er-Jahren auf dem Umweg über Hedgefonds die großen, börsennotierten Wohnungskonzerne. Erstmals hatte das globale Finanzkapital nun direkten Zugriff auf unsere Mieten. Das Ergebnis war verheerend – der Renditedruck gelangte bis ins Wohnzimmer, Neubau fand nicht mehr statt, das Geschäftsmodell beruht auf Verdrängung und Neuvermietung. Die Wohnungsnot hat so die Mittelschicht erreicht – und der Ruf nach Gemeinwirtschaft ist wieder da. Fast alle Wohnungsgenossenschaften in Berlin haben einen Aufnahmestopp wegen zu hoher Nachfrage, in Dresden wird das 2006 privatisierte kommunale Wohnungsunternehmen mühsam neu aufgebaut.
Die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen entstand folgerichtig im Umfeld von Mieterinitiativen in ehemals landeseigenen Wohnsiedlungen in Berlin – die Vermieter hießen GSW oder GEHAG, wobei die Gs für Gemeinnützigkeit standen. Die Mieter und Mieterinnen dieser Siedlungen wollen wieder gemeinnützig werden. Genau dies ist der Auftrag des Volksentscheids an den Senat. Er ist aufgefordert, »alle Maßnahmen zu ergreifen«, damit die Berliner Bestände der Großkonzerne vergesellschaftet und in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt werden. Ausgenommen sind Genossenschaften und öffentliche Unternehmen, denn diese dienen nicht dem privaten Profit und sind schon gemeinwirtschaftliches oder öffentliches Eigentum.
Für die Ausgestaltung der Anstalt öffentlichen Rechts, welche die vergesellschafteten Wohnungsbestände verwalten soll, hat die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen 2019 in ihrer Broschüre »Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft« konkrete Ideen vorgestellt. Sie entstammen der gemeinwirtschaftlichen Tradition: gemeinschaftliches Eigentum, demokratische Verwaltung, keine Ausschüttung von Gewinnen und die Verwendung von Überschüssen für Bedürfnisse der Gemeinschaft – die in diesem Fall die ganze Berliner Stadtgesellschaft umfasst. Das heißt, Profite der AöR dürften nicht entnommen, sondern nur für Instandhaltung und Neubau sowie die Finanzierung der Entschädigung verwendet werden. Die Stadt würde mit dem Tag der Vergesellschaftung jedes Jahr reicher, denn die Entschädigungspflichten verringern sich, die Mieteinnahmen aber bleiben dauerhaft. Vergesellschaftung ist ein Generationenprojekt. Wo der private Markt im Kleinen die Spaltung zwischen Einfamilienhauserben und Mieterinnen mit Dispo-Schulden vorantreibt, mit jeder Generation die Reichen reicher macht und Dynastien von Oligarchen hervorbringt, da bietet Vergesellschaftung soziale Sicherheit auch für unsere Kinder und Enkel. Damit dieser gemeinsame Reichtum bewahrt und nicht wie einst in der Neuen Heimat über die Köpfe der Mieterinnen und Mieter hinweg verspekuliert wird, fordert die Initiative eine grundsätzliche Demokratisierung der AöR, an der Mieterinnen und Mieter ebenso beteiligt sind wie die Angestellten des Unternehmens und die sonstige Stadtgesellschaft. Auch der Senat soll beteiligt sein – aber ohne Stimmenmehrheit. Denn sonst entstünde kein Gemeineigentum, sondern Staatseigentum. Die AöR wäre nach jeder Wahl von Privatisierung bedroht, und mit der bürokratischen Verwaltung der landeseigenen Unternehmen haben die Berliner Mieterinnen und Mieter bisher eher schlechte Erfahrungen gemacht – ihre Mitbestimmung hält sich in engen Grenzen. Weil die Landeseigenen als Aktiengesellschaften oder GmbHs verfasst sind, konnte auch der Senat wohnungspolitische Ziele hier nur durch Kooperationsverträge durchsetzen – obwohl das Land als Eigentümer eigentlich auch direkt durchgreifen könnte. Dazu gab es jedoch vom rot-rot-grünen Senat seit 2016 nicht einmal Anläufe.
Vergesellschaftung ist mehr als Enteignung
Mit dem Aufbau einer Gemeinwirtschaft am Wohnungsmarkt ist Vergesellschaftung ein positiver Gegenentwurf zum Marktradikalismus unserer Tage. Immobilienwerte, die im Besitz privater Konzerne Verdrängung und Existenzangst zur Folge haben, würden für soziale Sicherheit sorgen – und den Menschen Gestaltungsmacht über ihre Stadt zurückgeben. Wo die Politik heute ohnmächtig und hilflos ist, wenn Privateigentümer Kitas, Jugendzentren oder Ateliers entmieten, gäbe es mit einer Viertelmillion vergesellschafteter Wohnungen in Berlin einen riesigen Wohnungsmarkt, in dem nicht nur Bestehendes erhalten werden kann, sondern neue soziale Räume geöffnet werden. Wo der Markt das Gewebe unserer Städte zerstört, kann Vergesellschaftung nicht nur heilen, sondern die Stadt neu gestalten. Doch noch ist der Kampf um Vergesellschaftung nicht gewonnen. Der Berliner Beschluss-Volksentscheid ist als Akt der Volkssouveränität politisch bindend, aber gibt keine Garantie der Realisierung. Das hinhaltende Verfahren der Senatsmehrheit lässt befürchten, dass auch die nun tagende Expertenkommission nicht der Umsetzung des Mehrheitswillens dient, sondern dass hier auf Zeit gespielt werden soll. Wer weiß denn, ob sich 2023 die Bewegung nicht erschöpft hat? Dieses Spiel erlebten wir schon 2020, als eine »rechtliche Prüfung« den Volksentscheid für über ein Jahr auf Eis legte. Die Bewegung ist daran nicht zerbrochen, sondern noch gewachsen. Es liegt an uns, dieses Kunststück 2022 zu wiederholen – indem wir präsent sind und Vergesellschaftung nicht nur als Enteignung denken, sondern als positiven Gegenentwurf zum Markt einbringen. Auch nach dem Ende der Unterschriftensammlungen gilt: überall, wo sich Mieterinnen und Mieter wehren, muss auch die Forderung nach Vergesellschaftung erhoben werden.
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