Kein Paradies, sondern soziale Realität

Die Industriekooperative Mondragon im Baskenland gilt vielen als Leuchtturm alternativen Wirtschaftens

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 6 Min.
Auch die Supermarktkette Eroski gehört zum Genossenschaftsverbund Mondragon.
Auch die Supermarktkette Eroski gehört zum Genossenschaftsverbund Mondragon.

Vom Verwaltungsgebäude aus geht der Blick nach Süden hinab auf die Häuser von Mondragon, in der Ferne reckt sich der Berg Udalaitz mit seinen 1117 Metern in die Höhe. Am Gebäude ist zu lesen: »Humanity at Work«. Hier in dem 22 000-Einwohner-Städtchen, 55 Kilometer südöstlich von Bilbao im nordspanischen Baskenland gelegen, steht die Zentrale der größten Industriekooperative der Welt beheimatet. Seit Jahrzehnten gilt der Genossenschaftsverbund Mondragon vielen als Leuchtfeuer des alternativen Wirtschaftens, die Betriebe gehören der Belegschaft, sofern die Mitarbeiter auch Genossenschaftsmitglieder sind. Ein Mann/eine Frau eine Stimme, heißt dann das Prinzip, anders als etwa bei der Aktiengesellschaft. Manche Kritiker sprechen aber auch von »Kapitalismus light«.

Ander Etxeberria Otadui, für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, hat eine interessante Biografie: Er studierte zuerst Ingenieurwissenschaften und wechselte dann zur Soziologie, zum Genossenschaftsverbund kam er vor 23 Jahren. »Die Spreizung zwischen den höchsten und den niedrigsten Löhnen beträgt noch immer 1:6«, sagt der 50-Jährige, bei Dax-Unternehmen aber 1:86. »Und ja«, sagt er weiter, »der Genossenschaftsverband ist soweit gut durch die Coronakrise gekommen«.

Szenenwechsel: Wer weiter nördlich in der Küstenstadt Leiketio die Lebensmittel für das Abendessen einkaufen will, kann dies beim Eroski-Laden in der Santa-Katalina-Straße machen. Die große Supermarktkette hat 1600 Filialen in Spanien und 30 000 Mitarbeiter, 8000 von ihnen sind Genossen. Denn Eroski gehört ebenso zu Mondragon wie die Fagor-Gruppe, die Autoteile und Elektronik produziert. Oder die Sozialkasse Lagun Aro und die Bank Laboral Kutxa. Genossenschaften sind in Europa nicht ungewöhnlich, Industriegenossenschaften aber schon.

Mondragon besteht derzeit aus 95 Kooperativen mit insgesamt rund 81 000 Mitarbeitern, mehr als jeder Dritte ist Genosse. Vergangenes Jahr machte man einen Umsatz von 11,5 Milliarden Euro. Rund zwei Drittel werden im industriellen Bereich erarbeitet. Zum Genossenschaftskonzern gehören auch Entwicklungszentren wie Ideko (spezialisiert auf Industrieproduktion) oder Ikerlan (spezialisiert auf Elektronik und Kommunikationstechnologie) und Fortbildungseinrichtungen, darunter die Mondragon-Universität in Bilbao.

Ein paar Autominuten von der Zentrale entfernt kann man in einem konzerneigenen Bildungszentrum die Geschichte in einer kleinen Ausstellung nachvollziehen. Hier kann man Bilder und Ausweise von Jose Maria Arizmendiarrieta sehen, seinen Schreibtisch, Brillenetui, Bücher. Er hatte als Journalist am Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner teilgenommen, die Kriegsgefangenschaft überlebt und war anschließend der Kirche beigetreten. 1941 kam er auf Anordnung seines Bischofs nach Mondragon, wo er später eine Berufsschule gründete. Deren erste Absolventen, 24 Arbeiter und Ingenieure, gründeten 1956 eine Kooperative, die preisgünstige Ölöfen produzierten – die Keimzelle des heutigen Genossenschaftsverbundes.

Hervorgegangen aus der katholischen Soziallehre, zehrt Mondragon noch heute vom Ruf als Vorreiter des sozialen Wirtschaftens. Die vergangenen Krisen haben die Basken besonders gut überstanden, weil sich die Genossenschaften gegenseitig aushalfen. War bei der einen Cooperative gerade Flaute, konnten die Arbeiter bei einer anderen Cooperative unterkommen. Das Prinzip wurde erstmals 2013 aufgegeben, als der Küchengerätehersteller Fagor Pleite ging und nicht von den anderen Genossen aufgefangen wurde. Dessen Fabrikgebäude stehen am südlichen Ortseingang von Mondragon – lange Flachbauten, wie in der Industriearchitektur üblich. Hintergrund des massiven Absatzeinbruchs bei Elektroherden, Kühlschränken, Dunstabzugshauben oder Espresso-Maschinen in Spanien waren die Arbeitslosigkeit von 28 Prozent und bei jungen Leuten sogar von 56 Prozent, ein strikter Sparkurs der Regierung und die geplatzte Immobilienblase. Seit der Finanzkrise von 2008 hatte Fagor Geld verloren und Schulden von 850 Millionen Euro aufgehäuft. Die Belegschaft akzeptierte Lohnkürzungen von 20 Prozent und verzichtete auf das Weihnachtsgeld. Der Mondragon-Verbund sprang mit einem Kredit von 300 Millionen Euro ein. Als eine weitere Finanzspritze von 170 Millionen Euro nötig wurde, versagten mehrere Mondragon-Genossenschaften nun aber die Solidarität. Fagor bekam innerhalb des Verbundes kein Geld mehr. Der Sanierungsplan sei nicht lebensfähig, so die Generalversammlung der Genossen.

Aber man habe sich um die Mitglieder gekümmert, sagt Sprecher Ander Etxeberria Otadui. Von 1895 Betroffenen seien heute nur noch 60 ohne Job, die anderen hätten neue Stellen bekommen oder seien in Rente. Und Fagor-Cooperativen gebe es noch immer, nur produzierten sie keine Küchengeräte mehr.

Und wie hat die Coronakrise die Kooperativen getroffen? »Wir hatten große Probleme, viele Arbeiter mussten zu Hause bleiben«, sagt Etxeberria. Im April 2020 waren 9000 Mitarbeiter ohne Arbeit. Die Genossenschaften führten einen »flexiblen Kalender« ein. Maximal sechs Monate konnte man zu Hause sein oder auf Kurzarbeit, dann hatte man sechs Monate, um die Zeit wieder hereinzuarbeiten; war das nicht möglich, reduzierte sich der Lohn auf 80 Prozent. Arbeitslose kamen in anderen Kooperativen unter, gingen in eine Weiterbildung oder bezogen bis zu zwei Jahre Arbeitslosengeld. Ende 2020 hatten sich die Geschäfte dann wieder weitgehend erholt.

Im Fortbildungszentrum treffen sich gerade Mitglieder der Kooperative Fagor Enderlan, die mit 2000 Mitgliedern Autokomponenten herstellt, Bremsen etwa oder Getriebe. Inaki Barrutiabengoa arbeitet als Prozessingenieur. Die Aufgabe des 36-Jährigen ist die Verbesserung der Produktionsabläufe. Er und seine Kollegen tagen als »Sozialrat«. Das ist ein Gremium, das sich um die Verhältnisse am Arbeitsplatz kümmert – um Arbeitszeiten, gesundheitliche Bedingungen, Konflikte. Um das, wofür es ansonsten die Gewerkschaften gibt, die in Genossenschaften nicht vorgesehen sind.

Mondragon hat seit den 1970er Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, Soziologen reisten ins Baskenland und schrieben Bücher über die Genossenschaften. 1983 zu Beispiel das Ehepaar Whyte von der Cornell University, »Making Mondragon« hieß ihr Buch. Anfang der 1980er Jahre wurden auch die Kooperativen aus dem Baskenland von der weltwirtschaftlichen Rezession erfasst, etliche Betriebe rutschten in die roten Zahlen, einige mussten sogar die Werkstore schließen. »Doch«, schrieb damals Kenneth R. Hoover, Professor an der Western Washington University, »die Wahrscheinlichkeit, in einem wirtschaftlichen Abschwung zu scheitern, ist für Mitarbeiter-Betriebe deutlich geringer als in der übrigen Wirtschaft.« Zudem würden die Kosten der Rezession gerechter verteilt. Während im Baskenland 150 000 Menschen arbeitslos wurden, überstand Mondragon die Krise: Mitarbeiter wurden auf andere Kooperativen aufgeteilt, die Arbeitszeiten flexibel über das Jahr gestreut, die genossenschaftseigene Bank half mit günstigen Krediten. Seitdem gilt der Genossenschafts-Verband als vielversprechendes Modell sozialen Wirtschaftens.

Doch es gibt auch Kritik: Der Einsatz von Lohnarbeitern, die nicht Mitglieder der Kooperative sind, widerspreche der reinen Lehre, heißt es. Dies gelte auch für das Engagement auf den internationalen Märkten, das über privatwirtschaftliche Firmen abgewickelt wird. Mondragon setzt auf einen Produktionsmix, bei dem heimische Arbeitsplätze durch die Produktion von Komponenten in Billiglohnländern abgestützt werden und so auch der Zugang zu neuen Märkten geöffnet wird. Die Mitarbeiter in diesen ausländischen Firmen sind ganz »normale« Lohnarbeiter.

Ander Etxeberria Otadui, angesprochen auf solche Vorwürfe, erwidert: Mondragon sei kein Paradies, kein Experiment und keine Ideologie, sondern soziale Realität. Und er zählt die Vorteile für die Region um Mondragon auf: Man habe hier die geringste ökonomische Ungleichheit in ganz Spanien, die niedrigste Arbeitslosigkeit und man investiere am meisten in Forschung und Fortbildung. Und dies alles unter dem Motto: »Das wichtigste ist nicht das Kapital, sondern die Arbeiter.«

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