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Vom Schöpfen der Werte
Um den Weltmarkt zu erhalten, schmiedet der Westen neue Lieferketten nach politischen Vorgaben
Bei ihrem Treffen in den Schweizer Bergen diese Woche hatte die internationale Elite aus Politik und Wirtschaft einiges abzuarbeiten: hohe Inflation, Rohstoffknappheit, kalter Krieg zwischen den USA und China und heißer Krieg in der Ukraine. »Die Weltwirtschaft steht vor ihrer größten Prüfung seit dem Zweiten Weltkrieg«, warnte die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Kristalina Georgieva, die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos. Die grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten, die die globale Ökonomie verbinden, seien in Gefahr. »Das Risiko einer geoökonomischen Fragmentierung ist stark gestiegen«, so Georgieva.
Die Globalisierung zeigt Risse. Die Schuld daran, sagte Multimilliardär George Soros beim WEF, tragen Russland und China, sie seien eine »Bedrohung für die Zivilisation«. Auch aus Sicht der US-Regierung teilt sich die Welt zunehmend in »demokratische« und »autokratische« Staaten, wobei letztere inzwischen fast 35 Prozent der Weltwirtschaft ausmachen. Mit dieser Teilung drohen Regionen aus dem Weltmarkt herauszubrechen. Als Antwort darauf propagieren die USA und die EU nun eine »wertegeleitete« Handels- und Investitionspolitik. »Es wird zunehmend unhaltbar, den Handel von universalen Werten wie Menschenrechte und dem Respekt vor internationalem Recht zu trennen«, sagte Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB). Gemeinsam geteilte »Werte« sollen als neues Bindeglied dienen, um den Weltmarkt zusammenzuhalten. Es ist der Versuch des Westens, die Kontrolle über die globalen Logistik- und Lieferketten zu behalten. Denn Logistik, so der dänische Sozialwissenschaftler Søren Mau, »ist nicht eine bloße Frage der Kostensenkung, sie ist eine Waffe, ein Mechanismus der Herrschaft«.
Wachstum an der Kette
Eigentlich sollte die Weltwirtschaft derzeit einen Aufschwung erleben. Mit dem Abklingen der Corona-Pandemie war die Konjunktur wieder angelaufen, der Handel kam in Schwung. Die globale Nachfrage nach Rohstoffen, Vor- und Fertigprodukten stieg rasant und überforderte teilweise die Produktions- und Transportkapazitäten. Ergebnis waren Lieferverzögerungen und steigende Preise. Verstärkt wird dies nun zum einen durch den russischen Krieg in der Ukraine und die Sanktionen des Westens, die Rohstoffe weiter verteuern. Dazu kommt das Problem China: »Solange Peking an seiner Null-Covid-Strategie festhält und Millionenstädte abriegelt, wird es immer wieder zu Produktionsstilllegungen und einer lahmgelegten Infrastruktur kommen, was die Material- und Lieferengpässe verschärft und die Kosten treibt«, so die Commerzbank. Schließlich exportiert das Land nicht weniger als ein Drittel aller globalen Zwischenprodukte, die in die Fertigung der Industriestaaten eingehen.
Im Ergebnis sitzt beispielsweise die deutsche Industrie derzeit auf einem Rekordbestand von Aufträgen. Zwar sei die Nachfrage nach deutschen Waren groß, erklärt das Ifo-Institut, doch gleichzeitig »haben die Unternehmen Schwierigkeiten, die bestehenden Aufträge aufgrund des Mangels an wichtigen Vorprodukten und Rohstoffen zeitnah abzuarbeiten«. Und so ist die Wirtschaftsleistung der G7-Staaten im ersten Quartal 2022 gesunken. »Die Industrie liegt an der Kette«, klagt die Commerzbank – an der Lieferkette.
Globalisierung und Macht
Die Sorge um Kontrolle und Verlässlichkeit seiner Zulieferer treibt den Westen nicht erst seit dem Ukrainekrieg um. Bereits vor zehn Jahren startete US-Präsident Barack Obama eine »Nationale Strategie zur Sicherung der globalen Lieferketten«. Unter Obamas Nachfolger Donald Trump kam es zum US-chinesischen Handelskrieg, der vor allem mit Zöllen ausgetragen wurde, die zum Großteil bis heute bestehen. Daneben versucht Washington, mit Investitionsbeschränkungen und Exportkontrollen für Hightech-Güter den Aufstieg Chinas zu bremsen. Peking antwortet mit Gegenmaßnahmen. Auch die EU hat China zum systemischen Rivalen ernannt. »Spannungen im Handel und bei Technologiestandards wachsen seit vielen Jahren«, sagte IWF-Chefin Georgieva.
Dazu kam 2020 die Corona-Pandemie, die die Anfälligkeit der Lieferketten demonstrierte. Und nun liegt mit dem Krieg in der Ukraine die Frage auf dem Tisch, ob Russlands Rohstoffe für den Westen endgültig verloren sind und wie sich der wichtigste Zulieferer China positionieren wird – auf der Seite Russlands oder der des Westens. »Es zeigt sich«, resümiert EZB-Chefin Lagarde, »dass die Globalisierung weitgehend auf einem Ideal-Szenario einer relativen ökonomischen und geopolitischen Stabilität beruhte.«
Diese Globalisierung war vor allem ein Werk Westeuropas und Nordamerikas. Für ihre transnationalen Unternehmen erschloss sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Öffnung Chinas nicht nur die ganze Welt als Absatzmarkt, sondern auch als Reservoir billiger Arbeitskraft: Eine Milliarde Menschen betraten den Weltarbeitsmarkt. Mittels Computerisierung und dem intermodalen Transport per Container ließ sich dieses Potenzial heben: Globale Mehrwertschöpfungsketten wurden geknüpft, die die kapitalkräftigen Unternehmen mit der billigen Arbeitskraft verbanden und über die heute rund die Hälfte des Welthandels läuft.
»Was heute als Lieferkette bezeichnet wird, gehört zum Produktionsprozess«, erklärt Mau. Waren würden nicht an einem einzigen Ort, sondern über den gesamten logistischen Raum hinweg hergestellt. »Mit seiner zunehmenden Mobilität verbindet das Kapital zuvor getrennte Arbeitsmärkte und intensiviert damit die Konkurrenz unter den Arbeiterinnen, wodurch sie sich leichter disziplinieren lassen.« Darüber hinaus setze die Möglichkeit der Produktionsverlagerung auch die Staaten unter Druck und zwinge sie, ein geschäftsfreundliches Umfeld zu sichern. »Kurzum: Mobilität ist Macht.«
Macht nicht nur im Verhältnis von Kapital und Arbeit und Staat, sondern auch zwischen Staaten: Mit der Globalisierung ordnete sich der globale Norden den Rest der Welt als Zulieferer für sein Wachstum zu. Gemäß dieser Funktion erhielt dieser Rest seine Einordnung als »Rohstoffstaaten« und »Low-cost-countries«, die von der Konjunktur in Nordamerika und Westeuropa abhingen. Logistik ist nicht bloß der Transport von Gütern, sie ist »das unsichtbare Herz der neuen Geografie der Macht in der globalen Ökonomie«, schreibt der US-Soziologe Thomas Reifer.
Fragmentierung
Die Kette, an der der globale Norden heute hängt, hat er selbst geschmiedet. Nun beklagt er seine Abhängigkeit. Zu spüren bekommt er sie einerseits durch steigende Preise für Rohstoffe und Vorprodukte. Andererseits sind diese Preissteigerungen nur Äußerungen eines grundsätzlicheren Problems: materielle Knappheit. Waren früher alle Güter verfügbar, solange man sie bezahlen konnte, so ist jetzt die Verfügbarkeit an sich fraglich geworden. »Wir haben gesehen, wie abhängig die globale Produktion von kritischen Rohstoffen ist, die aus nur wenigen Ländern kommen«, so Lagarde. China kontrolliere schätzungsweise die Hälfte der globalen Kapazität an Seltenen Erden.
Die Abhängigkeit von den Zulieferern bedeutet die Abhängigkeit von ihrem politischen Willen: Wenn Russland die Ukraine überfällt oder China seine Häfen schließt, dann werden Lieferketten zur Fessel. »Unsere Verletzlichkeit ist mit dem russischen Ukrainekrieg deutlicher geworden«, so Lagarde. Die Unternehmen operierten auf »zunehmend unsicherem Terrain«. Laut Robert Koopman, Chefökonom der Welthandelsorganisation WTO, wird »die Fragmentierung der Weltwirtschaft voranschreiten«. Damit droht der Verlust der Kontrolle über die globalen Lieferketten.
Insbesondere die USA und die EU-Staaten machen sich nun daran, diese Kontrolle zu sichern. »Es ist an der Zeit, ungesunde Abhängigkeiten zu beenden«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Weltwirtschaftsforum, »und alte Ketten durch neue Bindungen zu ersetzen.« Zu diesem Zweck wird ein Stück weit das Prinzip aufgegeben, dass Güter dort produziert und gekauft werden, wo es am billigsten ist. Stattdessen wird versucht, über Industriepolitik die Produktion strategischer Güter heimzuholen – »onshoring« heißt der neue Trend. »In den USA und China werden die globalen Wertschöpfungsketten gemäß geopolitischen Prioritäten verändert – auf Kosten der Effizienz«, erklärt Lagarde.
Gemeinsame Werte
Zudem werden die Zulieferländer neu sortiert gemäß politischer Verlässlichkeit: Durch »reshoring« von Produktion in Länder mit den gleichen »Werten« soll der Zugriff auf Rohstoffe und Vorprodukte gesichert werden. US-Finanzministerin Janet Yellen spricht dabei von »friendshoring«, also von der Verlagerung von Produktion in Länder, »die sich an ein Set von Normen und Werten halten«. EU-Forschungskommissarin Mariya Gabriel fordert Europa auf, »seine Führungsrolle in strategischen Bereichen wahrzunehmen – und das auf Grundlage unserer Werte«. Und EZB-Chefin Lagarde erwartet eine Konzentration von Regionen »auf einen kleineren Pool potenzieller Zulieferer, die als zuverlässig gelten und im Einklang mit ihren strategischen Interessen stehen«. Geteilte Werte bedeutet also geteilte strategische Interessen, und das soll Zuverlässigkeit gewährleisten.
Wo diese Werte nicht geteilt werden, dahin sollen sie exportiert werden. Zum einen durch den Handel – »der riesige EU-Binnenmarkt erlaubt es der EU, ihr ökonomisches Gewicht einzusetzen, um Standards und Werte in anderen Teilen der Welt zu setzen«, sagte Lagarde. Zum anderen über Kapitalexport, beispielsweise durch den Aufbau von Infrastruktur in aller Welt. Um sich gegen Chinas Neue Seidenstraße zu positionieren, haben einige G7-Staaten vor einem Jahr eine Reihe »Werte-basierter Infrastruktur-Partnerschaften« initiiert: die US-Inititative Build Back Better World und der Global Gateway der EU, der Milliarden mobilisieren soll für Verkehrsinfrastruktur, digitale Netze, Gesundheit und Bildung in Osteuropa, Afrika, Asien und Lateinamerika. »Indem Global Gateway die Werte Europas in der Welt befördert, kann es zu einem Exportarm einer neuen EU-Industriepolitik werden«, verspricht die Denkfabrik Bruegel in Brüssel.
Unter dem Banner der Werte soll die Globalisierung gerettet werden. »It‘s the West vs. the Rest«, schreibt Angela Stent, Direktorin des Center for Eurasian, Russian & East European Studies, in der US-Zeitschrift »Foreign Policy«. Den »Rest«, nennt sie dabei die nicht-westliche Welt, die Russlands Einmarsch nicht verurteilt hat. Dieser Rest stelle zwar rund die Hälfte der Weltbevölkerung. »Aber«, so Stent, »es ist die ärmere Hälfte.«
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