Von Völkern und Mördern

Der inflationäre Gebrauch des Begriffs »Genozid« begleitet den Krieg in der Ukraine auf beiden Seiten

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, sagte in einem Interview vom 22. April mit der Internetzeitung »Meduza.io«, einem Organ der russischen liberalen Opposition: »Noch im Sommer (2021) sprach Putin davon, dass es so eine Nation wie Ukrainer nicht gibt. Genau so sprach Hitler von Juden.« Diese Sätze veraten viel darüber, wie im aktuellen Konflikt mit historischen Vergleichen umgegangen wird. Derzeit geistert der Begriff »Genozid« durch die Medien auf beiden Seiten, Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg werden scheinbar wahllos benutzt.

Noch vor dem Einmarsch in die Ukraine haben die russische Führung und die Staatsmedien den Begriff »Genozid im Donbass« etabliert. Diese Formulierung benutzte auch Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zur Begründung der Invasion am 24. Februar. Die Ungenauigkeit der Formulierung scheint durchaus gewollt zu sein. Donbass ist kein Begriff der politischen, sondern der physischen Geographie.

Mindestens zwei Aspekte bleiben im Unklaren: Galt der vermeintliche Genozid den Russen als Ethnie oder allen russischsprachigen Bewohnern? Sind damit die Versuche des ukrainischen Staates gemeint, die Kontrolle über die Gebiete der international nicht anerkannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk mit militärischen Mitteln wiederzuerlangen oder aber die Politik in den von der Ukraine kontrollierten Teilen des Donezbeckens? Im Verlauf des Krieges kam noch die These hinzu von angeblichen »ethnischen Waffen«, die in der Ukraine in Geheimlaboren entwickelt worden seien. Damit wird suggeriert, nicht nur der russischen Minderheit in der Ukraine drohe die potenzielle Vernichtung, sondern allen ethnischen Russen oder gar der gesamten Bevölkerung Russlands.

Mit der Verkündung des Kriegsziels der »Denazifizierung« der Ukraine beschuldigte Russland die ukrainische Regierung, einen radikalen Ethnonationalismus zu verfolgen und Nazis zu sein oder zu unterstützen; die Deklarationen rechtsradikaler ukrainischer Gruppen werden so mit den Absichten der Regierung von Wolodymyr Selenskyj gleichgesetzt. Ukrainisches Nationalbewusstsein kommt in den staatsloyalen russischen Medien fast ausschließlich in ihrer radikalen Ausformung vor.

Die Botschaft ist klar: Früher oder später kehre ukrainischer Nationalismus zu den Praktiken der Kollaborateure des Zweiten Weltkriegs zurück, womit der russischen Minderheit in der Ukraine die Vernichtung drohen würde. Dass die berüchtigte Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) in den 1940er Jahren vor allem nicht die russische, sondern die jüdische und polnische Zivilbevölkerung massakrierte, wird geflissentlich übergangen.

In der Ukraine wurde spätestens seit Kriegsbeginn davon abgesehen, sich offiziell zu distanzieren vom Stepan-Bandera-Kult der Nationalisten. Wenn Generalleutnant Oleksandr Pawljuk, der Leiter der regionalen Militärverwaltung von Kiew, vor Kameras mit Journalisten Lieder zu Ehren Banderas singt, sorgt dies für keine Debatten.

Die Sensibilität gegenüber historischen Vergleichen nimmt auf allen Seiten kontinuierlich ab. So wie Russland die Zerstörung ziviler Infrastruktur und die Opfer durch den ukrainischen Beschuss in den »Volksrepubliken« als Belege für einen »andauernden Genozid« präsentiert, suggeriert die ukrainische Seite inzwischen, die steigende Zahl der zivilen Opfer stelle das eigentliche Kriegsziel Russlands dar.

Seit April spricht Selenskyj offiziell von Genozid, mittlerweile haben Estland, Lettland, Litauen, Polen, Großbritannien und auch US-Präsident Joe Biden diese Sichtweise übernommen. Die deutschen Politiker sind bisher zurückhaltender, aber die Vokabel »Vernichtungskrieg«, bezogen auf die Handlungen Russlands, ist längst in Umlauf, so unterschiedliche Politiker wie Norbert Röttgen (CDU) und Jürgen Trittin (Grüne) sind sich hier einig.

Zwar wird in Deutschland gern der Kopf geschüttelt über die mangelnde Geschichtssensibilität in Osteuropa, doch selten finden sich hier Entgegnungen auf die russische Propaganda, die Selenskyjs politisches Programm und nicht seine jüdische Herkunft als Argument anführen würden gegen den Vorwurf, der ukrainische Staatschef sei Nazi.

Jede Seite versucht, die zivilen Opfer nicht als Zufall oder Exzess der Kriegshandlungen darzustellen, sondern als Ergebnis einer geplanten Vernichtung eines ganzen Volkes als solches. Die Leugnung der historisch gewachsenen ukrainischen Identität durch die russische Seite oder das Pochen auf Ukrainisch als Amtssprache für das ganze Land durch die ukrainische Seite werden nach jeweiliger Lesart zu Beweisen für die angeblichen Genozidpläne.

Was vor dem Krieg von der Fachwelt noch als Propagandamanöver der Politik erkannt worden wäre, erhält jetzt teilweise Unterstützung durch Experten: Der US-Historiker Timothy Snyder erklärte in der »Neuen Züricher Zeitung« Russland nicht nur zu einem faschistischen Staat, sondern warf die Frage auf, inwiefern ein Text von dem eher wenig bedeutenden russischen »Polittechnologen« Timofey Sergeytsew, veröffentlicht auf der Webseite der staatlichen Nachrichtenagentur »Ria Nowosti«, ein »Handbuch für einen Völkermord« darstelle.

Die Omnipräsenz von Genozid-Vorwürfen zeugt nicht nur von fragwürdigem Gesichtsbewusstsein. Paradoxerweise normalisiert es die Gewalt gegen Zivilisten, weil diese umso bedeutender erscheint, wenn sie angeblich für ihr »Volkssein« und als Volk ermordet werden, als bloßer »Kollateralschaden« aber nicht viel hergeben würden für moralische Empörung.

Nicht profanes Leiden, was schlicht in Kauf genommen wird, sondern sakrales Leiden als Teil der Nation und für die Nation taugt zum bewusst aufgebauten Mobilisierungsmythos. Die Tatsache, einer politischen Herrschaft unterworfen zu sein, wird durch die Erfahrung gemeinsamen Leidens mit Zugehörigkeitsgefühl ergänzt. Angst vor drohendem Völkermord verstärkt bei den Staatsbürgern kriegführender Staaten das Gefühl, ein Volk zu sein.

Für diesen Effekt spielt es auch keine Rolle, dass wohl weder die ukrainische Seite ihre renitenten Bürger in den Volksrepubliken noch die russische das »untreue Brudervolk« real auslöschen können und wollen. Jeder tote Zivilist wird als Beweis für die Existenz solcher Pläne in Beschlag genommen.

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