Traum von der freien Assoziation

Am 14. Mai jährte sich der Todestag von Emma Goldman. Die Anarchistin fand in den USA zum Anarchismus, wurde in Sowjetrussland von den Bolschewiki enttäuscht und engagierte sich im spanischen Bürgerkrieg. Ihre Ideen sind bis heute aktuell.

  • Frank Jacob
  • Lesedauer: 7 Min.
Emma Goldman – Traum von der freien Assoziation

Emma Goldman (1869-1940) war Ungerechtigkeit jeglicher Art ihr gesamtes Leben hindurch nicht nur unangenehm, sondern auch ein Phänomen, gegen das sie aufbegehrte, ja oft schlichtweg aufbegehren musste. Als Frau in einer von Männern dominierten Welt fand sie ihren Weg zum Anarchismus, den sie jedoch nicht aus Osteuropa in die USA mitbrachte. Sie radikalisierte sich vielmehr im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« in einem Milieu, indem viele Immigrant*innen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Gegen diese Umstände protestierte die junge Frau und wandte sich im radikalen Umfeld der New Yorker Lower East Side einige Jahre nach ihrer Ankunft in der »Neuen Welt« – im Jahre 1885 – dem Anarchismus zu. Dieser offerierte Goldman etwas, nach dem sie ihr ganzes Leben hindurch streben sollte, nämlich uneingeschränkte Freiheit, auch wenn ihre Forderungen nach eben dieser oft von den anarchistischen Männern nicht vollends geteilt wurden. Goldman wollte keine Revolution, die auf Regeln und Vorschriften beruhte. Sie wollte tanzen, ihre Freiheit genießen und eine Revolution der Massen erleben, wobei Frauen und Männer zusammen und in echter Gleichberechtigung voranschreiten würden, um als revolutionäre Massen die Welt dauerhaft zu verändern.

Enttäuschte Hoffnungen

Mit Blick auf ihre revolutionären Hoffnungen blieb Goldman jedoch die Erfüllung ihrer Träume verwehrt, und wie viele andere Revolutionär*innen der Geschichte musste sie miterleben, wie die Ideale einer revolutionären Erhebung im Verrat derselben und in einer totalitär gearteten Herrschaft endeten. Goldman, deren Leben sich über das »Zeitalter der Extreme« erstreckt, wurde nicht nur Zeugin des Ersten Weltkrieges und der Russischen Revolution, sie erlebte auch den Aufstieg Hitlers und Stalins, den Spanischen Bürgerkrieg sowie den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Gegen die Mobilmachung der USA und deren Beitritt auf Seiten der Entente gründete sie 1917 eine Vereinigung gegen die Wehrpflicht (No-Conscription League). Mit dieser protestierte sie gegen den seit 1914 zunehmenden Militarismus auf amerikanischem Boden wurden sie und andere prominente Anarchist*innen bereits vom jungen J. Edgar Hoover und der neu gegründeten General Intelligence Division überwacht. Ihre Äußerungen gegen den Kurs der Regierung brachte sie aufgrund neuer Gesetze vor Gericht, wo Goldman und ihr langjähriger Freund und Weggefährte Alexander Berkman zunächst zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. Die Behörden, allen voran der Antikommunist und Justizminister Alexander Mitchell Palmer, wollten die scheinbar gefährlichen Anarchist*innen des Landes verweisen, um damit die Gefahr der Ausweitung der Russischen Revolution auf amerikanischen Boden zu verhindern.

Goldman, die sich über Jahrzehnte immer wieder dem amerikanischen Staat entgegengestellt und gegen die Ausbeutung der Frau (etwa in der Ehe), für das Recht auf Abtreibung, für die Redefreiheit, gegen die Zensur und jede Form staatlicher Kontrolle protestiert hatte, galt den Verantwortlichen auf Behördenseite schon lange als »gefährliches Individuum«, deren Einfluss in radikalen Kreisen des Landes als besorgniserregend empfunden wurde. Dass ihr Name bereits 1901 mit dem Attentat auf US-Präsident William McKinley in Verbindung gebracht worden war, trug zudem dazu bei, dass Goldman von der breiteren Öffentlichkeit als Inbegriff einer als ausländisch stilisierten anarchistischen Bedrohung wahrgenommen wurde.

Von den USA nach Sowjetrussland

Schließlich wies die US-Regierung Goldman, Berkman und zahlreiche andere Anarchist*innen 1919 aus und ließ die Frauen und Männer auf einem ausgemusterten Schiff der US-Marine, der Buford, als »Amerikas Weihnachtsgeschenk für Lenin und Trotzki« in Richtung Europa verschiffen. Goldman hatte eigentlich bis zuletzt gehofft, diesem Schicksal zu entgehen, fügte sich jedoch schließlich, zumal sie davon überzeugt war, am Aufbau einer neuen Welt mitwirken zu können. Die Bolschewiki – allen voran Lenin – zu deren Unterstützung sie in den USA seit 1917 immer wieder öffentlich aufgerufen hatte, hatten jedoch bereits angefangen, die Macht in ihren Händen zu zentralisieren, und von den revolutionären Idealen des Februar 1917 war nicht mehr viel übrig. Während einige andere Anarchist*innen schon früh nach Sowjetrussland gekommen waren, die Revolution mit Rat und Tat unterstützten und dabei sogar den Spagat zwischen marxistischer und anarchistischer Auslegung postrevolutionärer Ziele vollbrachten, zweifelte Goldman bald an dem, was die Bolschewiki in Sowjetrussland geschaffen hatten. In der Ukraine wurde sie Zeugin von Pogromen an der jüdischen Bevölkerung, eine Erfahrung die sie tief prägte und der Anarchistin die eigene jüdische Identität erneut bewusst werden ließ. In anderen Teilen des vom Bürgerkrieg gezeichneten sowjetrussischen Territoriums, das Goldmann gemeinsam mit Berkman zur Sammlung von Daten, Fakten und Artefakten für ein neues »Museum der Revolution« bereiste, wurde ihr das Leid und die Zerstörung, die Unterdrückung individueller und politischer Freiheiten deutlich vor Augen geführt, so dass sich die Zweifel an Lenin und den Bolschewiki mehrten. Früher als andere Anarchist*innen, darunter auch Berkman, der erst nach den Ereignissen von Kronstadt im März 1921 mit den Bolschewiki brach, gab Goldman die Hoffnungen auf, die sie einmal mit der Russischen Revolution verbunden hatte. Sie hatte allerdings auch erkannt, dass es gefährlich war, offen Kritik an Lenin und seinen Getreuen zu üben.

Vielleicht gerade weil sie lange schwieg und erst nach ihrer Abreise aus Sowjetrussland im Winter 1921/22 damit begann, sich öffentlich gegen den Kurs der Bolschewiki zu äußern, wurde ihre Kehrtwende von den konservativen Kreisen der USA belächelt und von den Linken verurteilt. Letztlich machte sich Goldman Vorwürfe dafür, zu leichtgläubig akzeptiert zu haben, dass die Bolschewiki gegen anarchistische Grundsätze gehandelt und im Sinne eines marxistischen Staates begonnen hatten, die postrevolutionäre Ordnung zu gestalten. In den folgenden Jahren widmete sie sich daher verstärkt der intellektuellen und politischen Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus, auch wenn es ihr selten gelang, damit Gehör zu erhalten oder Anhänger*innen für sich zu gewinnen. Zu stark war anscheinend der Wunsch vieler Linker, sich den Glauben an den Erfolg der Revolution nicht nehmen zu lassen, selbst wenn das bedeutete, dass sie die Ideale der Februarrevolution hinter sich lassen mussten. Neben dem quixotischen Versuch, die Welt vom »wahren Charakter« des Bolschewismus zu überzeugen, musste Goldman jedoch auch noch ihren Lebensunterhalt sichern. Sie hoffte, durch einen Vertrag für ihre Autobiografie mit dem bekannten New Yorker Verlag von Alfred A. Knopf ausreichend Geld zu erwirtschaften, allerdings blieben die Verkaufszahlen für »Living My Life« (auf deutsch erschienen unter dem Titel »Gelebtes Leben«) hinter den Erwartungen zurück. Auch die Vortragsreisen der ehemals bekannten Anarchistin konnten kaum noch hohe Besucher*innenzahlen verzeichnen.

Als sich Alexander Berkman, mit dem Goldman die letzten Jahre in Saint-Tropez verbracht hatte, 1936 angesichts einer Prostatakrebs-Diagnose das Leben nahm, brach Goldmans Welt zusammen. Das Paar hatte sich durch die finanzielle Unterstützung von Freunden – die bekannteste unter ihnen ist vermutlich die Mäzenin Peggy Guggenheim – leisten können, auch wenn sie selten ein finanziell unbekümmertes Leben führten. Oft prekär arbeitend, ob als Lektor*innen, Übersetzer*innen oder Autor*innen, waren Goldman und Berkman zumindest eine Zeit lang glücklich gewesen, wie es Goldmann selbst einmal formuliert. Berkmans Tod ließ Goldman jedoch in einer Agonie zurück, aus der sich die Anarchistin im Zuge des Spanischen Bürgerkrieges allerdings noch einmal befreien konnte, der ihre Hoffnung auf eine weitere Chance für den Erfolg einer anarchistisch geprägten Revolution erneut weckte. Dass auch diese sich nicht erfüllte, muss Goldmann schwer getroffen haben.

Traum von Revolution und Freiheit

Doch Goldman, und das charakterisiert einen Großteil ihres Lebensweges, gab nicht auf. Zeitlebens strebte sie nach einer besseren, freieren und gerechteren Welt: einer Welt, in der menschliches Leben von nichts determiniert würde als vom menschlichen Wunsch, frei und selbstbestimmt zu koexistieren. Wenn wir versuchen, Goldmans Bedeutung für unsere eigene Zeit zu ergründen, dann kann konstatiert werden, dass die Anarchistin nicht nur zu einer Ikone der internationalen Frauenbewegung geworden ist, deren Konterfei auf T-Shirts und Bannern prangt, sondern dass auch ihre Schriften bis heute nichts von ihrer Aktualität und Bedeutung verloren haben. Goldmans Ansichten zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zu Freiheit und Revolution sind heute noch relevant und verdienen es, auch von zukünftigen Generationen aufmerksam gelesen zu werden. Selbst wenn das Leben der Anarchistin im ersten Moment etwas chaotisch wirkt – schon wegen der vielen Themen, mit denen sie sich auseinandersetzte und der vielen Orte, an denen sie, oft gezwungenermaßen, lebte -, so kann nach eingehender Analyse ihres Lebens und ihrer Werke ohne Zweifel behauptet werden, dass Goldman in erster Linie von zwei Dingen geprägt wurde: dem Wunsch nach absoluter Freiheit, im Sinne einer Lebensweise, die nicht durch staatliche Instanzen beschränkt ist – und der Hoffnung, dass diese befreite Lebensweise in der Zukunft mit allen Menschen geteilt werden könnte.

Von Franz Jacob erschien jüngst das Buch »Emma Goldman. Identitäten einer Anarchistin«, Hentrich&Hentrich 2022, br., 22€. Zum Weiterlesen aus dem Werk Emma Goldmans: »Anarchismus und andere Essays«, Unrast Verlag 2013, br., 14,80€. »Niedergang der russischen Revolution«, Karin Kramer Verlag 1987, antiquarisch erhältlich. »Gelebtes Leben. Autobiographie«, Edition Nautilus 2010, br., 32€.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -